„Die Perspektive ist düster“

■ Stefan Telöken, Sprecher des UN-Flüchtlingskommissars (UNHCR) in Deutschland, über die schwierige Lage der Flüchtlinge aus dem Kosovo

taz: Wie viele Albaner sind seit Beginn der Luftschläge aus dem Kosovo geflohen?

Stefan Telöken: Das ist sehr schwer zu sagen. Derzeit bewegen sich sehr viele Flüchtlinge auf die Grenze von Albanien und vielleicht auch Makedonien zu. Nach unseren Schätzungen sind bis Montag morgen 30.000 Menschen nach Albanien geflohen. In Montenegro spricht die Regierung von 10.000 Flüchtlingen. Es sind auch Flüchtlinge nach Makedonien unterwegs, wobei ihre Zahl bis jetzt nicht sehr groß war. Wir schätzen, daß seit Ende Februar letzten Jahres, als der Krieg im Kosovo eskaliert ist, 500.000 Kosovo-Albaner geflohen sind.

Was hat die jetzige Flüchtlingswelle ausgelöst, waren das die Luftangriffe der Nato oder werden die Menschen von den Serben vertrieben?

Wir kennen nur die Berichte der Flüchtlinge. Offensichtlich werden sie aufgefordert, ihre Dörfer innerhalb kurzer Frist zu verlassen. Die Serben hatten drei Grenzübergänge nach Albanien kurzfristig geöffnet, die vorher hermetisch abgeschlossen waren. Ich würde nicht sagen, daß die Albaner den Kosovo wegen der Luftangriffe verlassen, sondern daß sie vertrieben werden.

Wie viele Flüchtlinge sind noch zu erwarten?

Das hängt von der weiteren Entwicklung ab. Die Perspektive ist leider düster. Seit Mittwoch hat sich die Situation im Kosovo dramatisch verschärft. Wenn das so weitergeht, muß man mit weiteren Zehntausenden Flüchtlingen rechnen.

Wie ist die Lage der Flüchtlinge in Albanien und den anderen Nachbarländern des Kosovo?

In Makedonien sind die Flüchtlinge bislang fast ausschließlich bei Verwandten und Bekannten untergekommen, hausen dort also nicht im Freien oder in Sammelunterkünften. Die Kosovo-Albaner sind in Makedonien aber nicht allzu willkommen, weil man fürchtet, daß sie dort das fragile Gleichgewicht der Volksgruppen gefährden. In Albanien selbst ist die Situation noch schwieriger. Die Flüchtlinge kommen nicht nur in das ärmste Land Europas, sondern auch noch in die ärmste Region: den Norden. Dort hat die Aufnahme schon letzten Sommer große Probleme bereitet. Es dauert sehr lange, humanitäre Hilfe vor Ort zu bringen. Die Region von Kukes, wo die Flüchtlinge jetzt ankommen, ist eine Tagesreise von der Hauptstadt Tirana entfernt.

Was haben die Hilfsorganisationen bislang unternommen?

Die Hilfe ist angelaufen, muß aber noch verstärkt werden. Erste Konvois sind unterwegs. Die Menschen werden von der Grenze ins Landesinnere Albaniens gebracht.

Wenn die Situation in Albanien so kompliziert ist, muß dann nicht auch Westeuropa mehr Flüchtlinge aufnehmen?

Der Appell des UNHCR lautet: Die Grenzen offenhalten. Die Menschen, die jetzt aus dem Kosovo fliehen, sind schutzbedürftig. Es wäre nicht gerechtfertigt, die Albaner an den Grenzen Westeuropas als illegale Einwanderer zu betrachten. Das wird dem Schicksal dieser Menschen nicht gerecht.

Bisher haben die EU-Staaten ihre Flüchtlingspolitik noch nicht miteinander abgesprochen. Wie muß eine koordinierte europäische Politik aussehen?

Die Diskussion auf EU-Ebene zeigt, daß viele Fragen noch unklar sind. Zum Beispiel: Muß ein Land weniger Flüchtlinge aufnehmen, das in der Vergangenheit schon viele hereingelassen hat? Sollen die Aufnahmeländer finanziell entschädigt werden? Aber da die Flüchtlinge zum Teil auch familiäre Bindungen haben — in Deutschland leben jetzt schon 500.000 Albaner —, kann man sie nicht einfach streng nach Quote aufteilen wie Sachgüter. Das macht das Verfahren komplizierter. Aber wenn sich die Situation im Kosovo weiter verschärft, haben wir es mit der Macht des Faktischen zu tun. Und dann müssen schnelle Entscheidungen getroffen werden. Ich hoffe nicht, daß es soweit kommt, sondern daß sich die Situation im Kosovo beruhigt.

Was kann Deutschland tun?

Die Bundesregierung hat erhebliche finanzielle Hilfe angekündigt. Wir begrüßen das. Der UNHCR spricht sich außerdem für einen Abschiebeschutz aus. Zum einen ist es psychologisch wichtig, die Schutzbedürftigkeit der Albaner anzuerkennen. Angesichts der Bilder aus dem Kosovo wird das wohl auch von der Mehrheit der Deutschen so gesehen. Zum anderen haben diese Bürgerkriegsflüchtlinge in deutschen Asylverfahren keine Chance auf Anerkennung, obwohl wir glauben, daß sie unter den Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention fallen. Unter einem Abschiebestopp könnten die Kosovo-Albaner hier sicherer leben. Interview: Till Ottlitz