Schocken und Floppen

Ganz doll provokativ: Das Männerensemble spielt in der DT-Baracke Tim Luscombes „The One You Love“  ■ Von Miriam Hoffmeyer

„Shoppen und Ficken“ ist ein Titel, der auch älteren Berliner Theaterliebhabern inzwischen fast ohne Stocken über die Lippen geht. Und die Ausstellung „Sensation“ junger britischer Künstler, die vor einiger Zeit im Hamburger Bahnhof zu sehen war, fand viel freundliches Interesse, obwohl dort in Scheiben geschnittene Rinder, ein verwesender Pferdekopf und Kleinmädchenpuppen zu sehen waren, denen Penisse aus den Gesichtern wuchsen. In London hatte die Ausstellung einigen Wirbel verursacht, empörte Besucher gingen mit Säure auf die Kunstwerke los.

Von so etwas kann Berlin nur träumen. Woran liegt's? Gucken die Berliner zu viele Pornos und Horrorfilme? Sind sie so überaus souverän und weltstädtisch? Oder haben sie einfach nur besonders viel Angst davor, für spießig gehalten zu werden? Jedenfalls ist es für rebellische junge Künstler schwer, hier Effekt zu machen. Prompt erhöhen die Theater die Blut- und Spermadosis: Ganz doll provokativ ist Tim Luscombes „The One You Love“, das Jan Oberndorff mit dem Berliner Männerensemble in der Baracke inszeniert hat.

Moon (Francis Codjoe) und Marty (Mathias Noack) sind von Aids schon schwer gezeichnet, halten aber nichts von Safer Sex und Aufklärungsbroschüren. „Was soll's? Du wirst geboren, du stirbst, und dazwischen fickst du deine Freunde!“ bringt Moon es auf den Punkt. Der vorsichtige Dominic (Stephan Lohse) will aber nicht ficken, obwohl er Moon und Marty liebt, sondern wäscht lieber, natürlich mit Gummihandschuhen, ihr Geschirr ab. Bis er sich eines Tages doch noch für den Liebestod entscheidet und Blutsbrüderschaft mit den beiden trinkt – schwul wie Winnetou.

Eine bejahrte Transe (Tim Herbert) verkörpert die kraftlose Stimme der Vernunft, das Sadomaso-Duo Don und Frizz dagegen eine weitere Spielart der Sucht nach Extremen. Einmal wird der Teenager Frizz (Frank Benz) minutenlang an den Kopf und in den Unterleib getreten. Er überlebt jedoch und wird erst später – und auf eigenen Wunsch – hinter der Bühne zu Tode gequält.

Luscombe paßt seine Schockthemen in einen starren zeitlichen und räumlichen Rahmen ein, doch bleibt der Kontrast eher theoretisch. Die zwölf Szenen spielen in zwölf aufeinanderfolgenden Monaten. Dem Frühling in Essex folgt ein Sommer an der Südküste Englands und ein Winter in Schottland. Trotz dieser gesuchten Formstrenge will kein Eindruck von Allgemeingültigkeit, Schicksalhaftigkeit oder dergleichen entstehen. Das mag auch an der Inszenierung liegen: Das Berliner Männerensemble spielt so realistisch, wie es kann, auch wenn manches übertrieben schwuchtelig gerät.

Die einzige interessante Figur ist Sam, ein mysteriöser Holländer, der allen anderen genau das gibt, was sie sich am meisten wünschen: Una verschafft er nur durch seinen Anblick den ersten Orgasmus seit Jahren, Frizz nagelt er die Vorhaut gekonnt mit Reißnägeln auf die Tischplatte, und schließlich ermordet er Moon, weil Marty ihn darum gebeten hat. Mit priesterlicher Gebärde trägt Sam (Dirk Borchardt) die Eingeweide zu seinem Auftraggeber, der herzhaft hineinbeißt.

Damit kippt das Stück, das an manchen Stellen durchaus witzig mit dem Grauen spielt, endgültig in unfreiwillige Komik um. Daß fast alle Protagonisten sterben oder dem Wahnsinn verfallen, kann man nun wirklich nicht mehr ernst nehmen. Trotzdem gibt es in „The One You Love“ so grausame oder eklige Szenen, daß es eigentlich für einen kleinen Theaterskandal reichen sollte: Etwa wenn Marty seinem Freund, der frisch von der Klappe kommt, fremdes Sperma vom Hintern schlürft. Im Publikum aber grummelt niemand oder verläßt gar aus Protest den Saal. Mäßiger Beifall, keine Sensation: Schocken und Floppen.

Heute, morgen und 30. April, jeweils 20 Uhr, Deutsches Theater, Baracke, Schumannstr.13a, Mitte.

27.5.–21.6. immer donnerstags bis montags, 20 Uhr,Theater Zerbrochene Fenster, Fidicinstr.3, Kreuzberg