Alltägliches Japan

Aus dem Tagebuch einer Haßliebe. Uwe Schmitts Essay über seine sieben Jahre als Korrespondent in Japan  ■ Von Iris Hanika

Manchen Leuten ist Japan ganz egal: „Wenn man nach Japan fährt, braucht man ein bißchen mehr Zeit, damit man woanders hinfahren kann“, faßte einmal die Begleiterin eines Japanophilen ihre Reiseeindrücke zusammen. Wenn einem Japan allerdings nicht egal ist, dann liebt und haßt und liebt man es. So ein Liebhasser jedenfalls ist Uwe Schmitt, von 1990 bis 1997 sechseinhalb Jahre lang Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Tokio (das er nach der Umschrift des Hepburn- Systems Tôkyô schreibt), der über diese Zeit nun ein sehr schönes Buch vorlegt: „Tokyo Tango“, noch eine Schreibweise, und „tango“ heißt „Vokabel“. Schmitt hat seine mit dem Herzen gelernt.

In stetem Wechsel von Anziehung und Abstoßung, von dem auch zahlreiche andere von Schmitt angeführte Japankenner berichten, verbrachte „Frank Furter – Schmitt Uwe-sama“, wie ihn das Tokioter Filmfestival nannte, seine japanischen Jahre. Bei der Beschreibung seiner ersten Wochen in Tokio habe ich Tränen gelacht, bei der Beschreibung, wie Japan mit seinen Kriegsverbrechen umgeht, kochte ich vor Wut – wie der Autor selbst. Sehr sympathisch, daß „Japan (...) nicht das Land des idiotischen Da-könnte- ja-jeder-kommen-Prinzips“ ist, vielmehr seien „Ausnahmen (...) die Regel, solange sie niemandem durch Vorbild schaden“; sehr unsympathisch dagegen, wie japanische Kinder ihre ersten Jahre in paradiesischer Freiheit verbringen, um anschließend zu „Salarymen“ gedrillt zu werden, deren klaglose Hingabe an ihr „Metro- boulot-dodo-Leben“ Westlern so unbegreiflich ist. Aber dann weckt die Lobpreisung des Badens in heißen japanischen Quellen eine ungeheure Sehnsucht, und man möchte sofort das Reisebüro anrufen, ist indes bald darauf von den behördlichen Versäumnissen nach dem Erdbeben in Kobe wiederum so angewidert, daß man doch lieber in Berlin bleibt.

So geht das die ganze Zeit, und es entsteht kein Bild, das man festhalten, keine Meinung, auf die man sich festlegen könnte, überhaupt nichts Festes eben, sondern ein stetes Fließen äußerst widersprüchlicher Gefühle, was zwar irgendwie dem Klischee entspricht, Japan sei ein sehr gefühlsbetontes Land, aber ist es nicht auch ein sehr kriegerisches? Uwe Schmitt nähert sich allen Seiten Japans und hebt keinen Aspekt mehr hervor als einen anderen; er ist tatsächlich ein unbestechlicher Beobachter und sein Buch ein Gewebe aus gleich dicken Fäden.

Aber nun war er ja nicht als Poet in Japan, sondern als Korrespondent, so daß dieses Gewebe an Konkretes geknüpft ist. Schmitt spart weder an Fakten noch an Literaturhinweisen, und er ist genügend japanischen Intellektuellen, Funktionären, Kollegen und Verwandten begegnet, um auch die Binnensicht auf Land und Leute darstellen zu können. Eingehend widmet er sich dem Erdbeben in Kobe und dem Giftgasattentat auf die Tokioter U-Bahn, die das Land 1995 erschütterten, um deutlich zu machen, warum Japan in jenem Jahr „seine Unschuld verloren“ hat. Vor allem aber ist es ihm „in Japan immer mehr um Menschen zu tun als um Kunst und Götter“ und um „Japans Vitalität, seine Lebenskunst in Widersprüchen. Das Einfältige, Rohe, Sinnliche, Kindliche, Krampfhafte, Brutale, Lustige, Tapfere, jedenfalls das Alltägliche in Japan hat es mir angetan.“

Beigegeben sind dem Ganzen 23 Fotografien von Nobuyoshi Araki, die dieses alltägliche Japan zeigen und selbst nicht wie Kunst, sondern wie – eben Alltagsfotografie daherkommen. Es sind vor allem dokumentarische Aufnahmen, kaum arrangierte, man sieht nicht die gefesselten Frauen, mit denen Nobuyoshi berühmt wurde (aber ein paar nackige), sondern Menschen in verschiedenen Situationen sowie spröde Stadtlandschaften. Die Fotos sind auf die Mitte zentriert, also immer genau auf den Knick des Buches, wo man sie dann schlecht sehen kann, die Mitte. Den Semiotiker in uns erinnert diese Form der Wiedergabe an Roland Barthes' Diktum, das Zentrum Tokios sei leer, denn dort befindet sich der Kaiserpalast, und der ist tabu. Andere stimmen Barthes nicht zu, sondern meinen, „der Palast [richte] den Blick der Bürger auf den Bauch Tôkyôs (...), wo nach japanischem Verständnis alles Gefühl und Leben sitzt.“

Wie auch immer, Uwe Schmitt jedenfalls lenkt den Blick auf Gefühl und Leben um den Kaiserpalast herum und bringt einem Japan damit so nahe, daß man nach der Lektüre meint, man sei gerade dort gewesen.

Uwe Schmitt: „Tokyo Tango. Ein japanisches Abenteuer“. Mit 23 Fotografien von Nobuyoshi Araki. Die Andere Bibliothek. Frankfurt: Eichborn Verlag 1999. Gebunden, 305 Seiten, Glossar, Personenregister. 49,50 DM.

Ebenfalls erschienen ist eine Auswahl von Uwe Schmitts in Japan entstandenen Artikeln: „Sonnenbeben. 50 Improvisationen über Japan“. Mit einem Vorwort von Klaus Harpprecht. Göttingen: Edition Peperkorn JAHR. 306 S., geb., 39 DM.