Lothar Matthäus (38), Fußballgott

Nach einer Woche mit Siegen gegen Finnland und Nordirland in der EM-Qualifikation ist der Bayern-Libero Meta-Kapitän, Meta-Teamchef, künftiger Teamchef, Taktikchef, „Rudelführer“, Rekordnationalspieler Alpha und Omega des DFB. Warum eigentlich?  ■ Von Peter Unfried

Nürnberg (taz) – Lothar Matthäus hat sich genug bieten lassen müssen. Damals, als es selbst für ihn geraten schien, sich mal besser was bieten zu lassen. Letzte Woche. Lange her. Jetzt ist Lothar Matthäus ganz oben. Ist Meta-Kapitän, Meta-Teamchef, ehemaliger Kapitän, künftiger Teamchef, Taktikchef, „Rudelführer“ (DFB-Vize Mayer-Vorfelder), Rekordnationalspieler und vieles mehr.

Verständlich, daß so einer bei der Nachbereitung der Ereignisse von Nürnberg mit Selbstbewußtsein auftritt. Obwohl: „An Selbstbewußtsein hat's mir noch nie gefehlt“, erklärte er den versammelten Fachjournalisten. Nach einer Woche mit Siegen gegen Finnland (2:0) und Nordirland (3:0) und der daraus resultierenden Tabellenführung in der EM-Qualifikationsgruppe 3 wird bei so einem Satz wieder gewiehert.

Bevor er den Menschen seinen Humor schenkte, mußte Matthäus freilich abrechnen. „Ich kann nichts dafür, daß ich 38 bin“, donnerte er bei der Aprés-Show von der Bühne ins Auditorium, wo er Feinde wittert, die dazu neigen, ihm die 38 tendenziös hinter den Namen zu schreiben, um anzudeuten, er sei zu alt. Unfug: Leistung sei keine Frage des Alters, das hätten „einige hier in diesem Raum noch nicht kapiert“. Es tue ihm leid, das so klar sagen zu müssen.

Als ob ein Lothar Matthäus zu alt sein könnte.

Es ist wieder wie einst – nur besser. Das Weltmeisterteam von 1990 war nicht das des damaligen Kapitäns gewesen, sondern das des Teamchefs Beckenbauer. Als er das Team von Nachfolger Vogts zu seinem machen wollte, ging es bergab für alle, so lange bis Matthäus als nicht mehr tolerierbarer Risikofaktor hinausgeschmissen werden mußte. Das Team danach war das des Kapitäns Jürgen Klinsmann, jenes Profis, den Matthäus sich als Feind aufbauen mußte, weil der sich gegen ihn wehrte.

Nun aber sind seine größten Feinde tot. Klinsmann hat man in bewährt konzertierter Aktion vollends vergrault, Berti Vogts womöglich schon über die österreichische Grenze gekarrt, Thomas Helmer ist selbst bei Bayern ein erledigter Fall.

Den amtierenden Kapitän Bierhoff haben Matthäus' Kollegen von Bild längst im Schwitzkasten. Ist nicht besonders schwer: Analog zu Vorgänger Klinsmann wird die abgelieferte Leistung des Stürmers einfach auf die Minuten ohne DFB-Tor reduziert (nach dem Finnland-Spiel: 322). Wie es aussieht, kann sich dieser Kapitän nicht mausig machen. Solange er nicht trifft, schon gar nicht.

Nicht, daß Bierhoff nicht kooperativ wäre: Aber Bild-Beckenbauer-Matthäus ist das magische Dreieck, das den angeschlossenen Unternehmen (Kirch, Springer, Bertelsmann, adidas) den Geschäftsbereich Fußball und insbesondere die WM-Bewerbung 2006 erschließen und kontrollieren hilft.

Deshalb arbeitet, zum Beispiel, die Sportagentur ISPR an der Optimierung von Matthäus' Infrastruktur. Es geht darum, einen „neuen“, „gereiften“ Matthäus auf dem Markt und im öffentlichen Bewußtsein zu positionieren. Mit dem Schuhwechsel zu adidas hat man ihn zudem einen wichtigen Schritt auf die DFB- und adidas- Ehrenspielführer Walter, Seeler, Beckenbauer zugehen lassen.

Eine Schlagzeile wie „Matthäus soll Ribbeck ablösen“ (Sport-Bild) mit entsprechendem Beckenbauer-Zitat („Der Lothar ist prädestiniert“) ist da weniger als Nachricht, sondern als Erinnerung an den durchaus kooperativen DFB- Präsidenten Braun zu verstehen. Natürlich soll Matthäus Ribbeck ablösen – wozu hätte man sonst Ribbeck gebraucht?

Ribbeck (61) hat ja auch pragmatisch und einsichtig vor einem halben Jahr Matthäus zurückgeholt und wird dafür von Bild und Beckenbauer geschont oder neuerdings gar gestreichelt („Ja, Erich, weiter so!“).

Das muß nicht heißen, daß Beckenbauer etwas von Ribbecks fachlichen Qualitäten hielte, aber nach dem unkooperativen Gespann Vogts und Klinsmann schätzt man die Qualität einer Zusammenarbeit, bei der kniegeschädigte Bild-Reporter sich auch schon mal vom DFB-Masseur behandeln lassen können.

In der dunkelsten Nacht, jener von Jacksonville nach dem 0:3 gegen die USA, hat Ribbeck selbstredend Matthäus angerufen („Lothar, komm mal rüber“). Die dann unter heftiger Mitwirkung von Matthäus entstandene Übernahme von Bayern-Trainer Hitzfelds 3-4-3-System hat das Team tatsächlich taktisch etwas vorangebracht. Ob das System mit der Viererkette mithalten kann, die die führenden Teams der Welt spielen, ist eine ganz andere Frage. Es hat zumindest einen Vorteil: Man kann Matthäus mitspielen lassen.

Matthäus, das hat man auch in Nürnberg gesehen, war ein erstklassiger Fußballer, dessen beachtliche körperliche Restsubstanz von einer bemerkenswerten Willenssubstanz noch übertroffen wird. Matthäus will Nationalspieler sein – unbedingt und so sehr, wie sonst weit und breit keiner. Wenn Matthäus sagt, er lebe für den Fußball, sollte man ihm das genau so glauben. Seine Antizipation und Routine und sein erhaltener Antritt befähigen ihn weiterhin, problematische Situationen zu lösen. Andererseits: Matthäus' weite Pässe – meist aus dem Stand gespielt – bringen ihm Szenenbeifall, verändern aber im Gegensatz zu Jens Jeremies' Vorstößen die Situation nicht.

Während Matthäus Situationen meidet, in denen er nicht gut aussehen könnte, profiliert sich Jeremies eben da.

Jeremies (25) war es, der dem Team in Nürnberg zumindest andeutungsweise das zurückgegeben, was bei Vogts den Unterschied machte. Eigentlich nämlich wurden die Finnen überrannt, nicht ausgespielt. Sein Tor zum 1:0 entsprang einer fast schon erfurchterregenden Verbindung von Physis und Willenskraft. Jeremies ist natürlich der bessere Matthäus. Das weiß auch Bayern-Trainer Hitzfeld. Aber beide sind in ihrem ersten Jahr beim FC Bayern. Beide werden den alten König nicht ohne Not stürzen. Erstens will Beckenbauer das nicht, und zweitens will Beckenbauer das nicht. Für den DFB gilt gleiches. Drittens kann Jeremies mit dem Instinkt der Straße riechen, daß ihm eh bald alles in den Schoß fällt. Dennoch exponiert er sich in diesen Tagen als Non-Konformist.

Während Matthäus trotz der Erfahrung von knapp zwei Jahrzehnten im DFB-Team sich selbst davon überzeugen kann, man könne „fast nicht mehr schöner spielen wie in der ersten Halbzeit“, gehört er zu den wenigen, die dieser kühnen These zu widersprechen wagen. „Zwanzig Minuten“ hat er registriert, „wo's ganz gut war“.

Es ist interessant, daß mittlerweile einige Leute Lothar Matthäus nicht mehr für einen unsympathischen Volltrottel halten, sondern für einen „weltoffenen“, „pflichtbewußten“, „modernen“ und sogar „gutaussehenden“ Mann. Sagt ISPR. Es mag eine Rolle spielen, daß der Zeitgeschmack am Ende des Jahrhunderts ein Faible für skurrile, trashkompatible Persönlichkeiten hat. Fußball ist aber noch nicht komplett Fernsehen. Niemand kann sich oben halten, der überhaupt nichts kann – zumindest kein Spieler. Also: Matthäus muß ein Gott sein – oder ein Halbgott oder wie Ribbeck ganz richtig sagt, der Beweis dafür, „was ein Älterer noch zu leisten in der Lage ist“.

Doch wie Achill hat sein Körper eben einen schwachen Punkt. Der ist mal hier, mal dort, dann zwickt es oder zwackt es, und dann muß Matthäus sich wie in Belfast vorsichtshalber schon zur Halbzeit auswechseln. War kein Problem gegen Nordirland, kann aber auch passieren, wenn es gilt, gar nicht zu reden von einem Turnier wie der EM 2000. Man könnte natürlich auch argumentieren, der europäische Spitzenklub FC Bayern stütze sich insbesondere auf die Ausnahmespieler Kahn, Effenberg, Jeremies und Elber – und Matthäus laufe noch so mit. Man könnte sagen: Der Gipfel, auf dem er nun beim DFB steht, kann nicht mehr besonders hoch sein – ansonsten er nicht mehr hingekommen wäre.

Das kann man – ist aber nicht Matthäus' Problem.

Lothar Matthäus hat kein Problem. Lothar Matthäus ist ganz und gar zurück. Jahrelang hatte Bild Matthäus künstlich beatmen müssen, nun zahlt sich die Weitsicht aus. Matthäus wird dem Land als öffentliche Figur erhalten bleiben, 62 Prozent der Deutschen halten ihn für sympathisch, und das mit dem Job als Teamchef will er auf sich „zukommen lassen wie Franz Beckenbauer“ – sein großes Vorbild in jeder Beziehung. Aber wenn er Deutschland helfen kann, läßt er sich „in die Pflicht nehmen“, wie er das nennt. „Ich war noch nie jemand, der sich in den Vordergrund spielen wollte“, sagte er in Nürnberg, bremste dann ab, womöglich, um kurz darüber zu reflektieren, und setzt dann nach: „Jedenfalls nicht mit Absicht.“