„... indem er eine Bank nahm und die Fensterkreuze der Synagoge einschlug...“

Der Hamburger Fuhrmann Sch. und der 9. November 1938: Über einen vergessenen Prozeß gegen die nationalsozialistischen Täter der Reichspogromnacht  ■ Von
Wilfried Weinke

„Am 7. November 1938 erschoß der 17jährige polnische Jude Herschel-Vivel Grynszpan in der deutschen Botschaft in Paris den Lega- tionsrat Ernst vom Rath... Die Folge dieses Mordes war die Kristallnacht vom 9. zum 10. November 1938... Wer für diesen politischen Unsinn verantwortlich gewesen ist, wird sich nicht einwandfrei feststellen lassen... Es mag sein, daß die sehr scharfe Rede des Propagandaministers die Übergriffe veranlaßt hat. Aus der heutigen Sicht scheint es jedoch nicht ausgeschlossen zu sein, daß auch Männer des Widerstandes, vielleicht sogar die Juden selbst ein Interesse an dem Brand der Synagogen gehabt haben.“

„Sogar die Juden selbst“: Die Opfer als Täter. Zu dieser Unterstellung verstieg sich der ehemalige nationalsozialistische Bürger- meister Hamburgs, Carl Vincent Krogmann. Es ist ein Zitat aus seinen 1976 (!) veröffentlichten Erinnerungen.

Jenseits solcher unhaltbaren Behauptungen ist das Wissen um die Vorgänge während der sogenannten Reichskristallnacht in Hamburg aber immer noch rudimentär. Es gibt bislang keine umfassende Darstellung dieses staatlich organisierten Pogroms, in dessen Verlauf auch jüdische Bürger Hamburgs verfolgt, inhaftiert und getötet, Synagogen, Geschäfte zerstört und geplündert wurden. Selbst die in fünf Auflagen und von der Hamburger Landeszentrale für politische Bildung herausgegebene Dokumentation zum 9./10.11.1938 blieb bezogen auf die Hamburger Ereignisse und Vorgänge bemerkenswert dürftig.

Vor 50 Jahren fand in Hamburg ein Prozeß gegen 34 Synagogenbrandstifter statt (vgl. taz hamburg vom 13./14. März). Nur war es keineswegs das erste Verfahren, das sich mit dem Pogrom in der Hansestadt beschäftigte. Schon zwei Jahre zuvor war ein Verfahren vor dem Landgericht Hamburg gegen den Hamburger Fuhrmann Sch. beendet worden.

Dieser Prozeß allerdings mußte und durfte der taz entgegehen: Er findet in der einschlägigen Literatur keine Beachtung. Die beiden wichtigsten wissenschaftlichen Institutionen Hamburgs, die „Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus“ und das „Institut für die Geschichte der deutschen Juden“ erwähnen in ihren Veröffentlichungen dieses Verfahren nicht. Auch in der von Hamburger Historikern zusammengestellten Dokumentation „Der 9. / 10. November 1938 in Deutschland“, herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung, findet sich kein Hinweis. Einzig in dem Buch „Ehemals in Hamburg zum Hause: Jüdisches Leben am Grindel“, 1991 herausgegeben von Ursula Wamser und dem Autor, wurde der Prozeß gegen den Fuhrmann Sch. dargestellt.

Erstmals war Sch., seit 1937 Mitglied der NSDAP und der NSV, der NS-Volkswohlfahrt, im Juni 1945 angezeigt worden. Er wurde beschuldigt, „der Hauptanführer bei der Zertrümmerung der Synagoge (Hauptsynagoge) Hamburg 13 Bornplatz im Juni 1939“, darüberhinaus „besonders bei der Judenverfolgung und Mißhandlung von Israeliten in Hamburg sehr aktiv beteiligt“ gewesen zu sein. Vier Menschen aus der unmittelbaren Nachbarschaft von Sch. waren als Zeugen aufgeführt. Nach einer im September 1945 durchgeführten Vernehmung des Beschuldigten betrachtete die Kriminalpolizei die Angelegenheit als „erledigt“, da eine „Beteiligung an der Zerstörung der Synagoge“ nicht nachgewiesen werden konnte.

Im Mai 1947 allerdings wurde Sch. verhaftet und in Untersuchungshaft überführt. In den umfangreichen Zeugenvernehmungen, die vor allem die Schändung und Zerstörung der Synagoge am Grindel behandelte, wurden 18 Personen vernommen, allesamt Bewohner des Grindelviertels.

Die Vernehmungen entlasteten den Fuhrmann Sch. zwar von einer Mittäterschaft an der Schändung der Bornplatz-Synagoge. Drei Zeu- gen aber beschuldigten ihn, an den Zerstörungen in der Synagoge in der Rutschbahn beteiligt gewesen zu sein . Gemeint war die 1905 eingeweihte, in einem Hinterhof gelegene Alte und Neue Klaus.

Eine Zeugin sagte: „Durch den übergroßen Krach bei der Synagoge in der Rutschbahn wurde ich geweckt. Um festzustellen, was die Ursache des Lärms sein könnte, begab ich mich auf den Balkon. Von dort sah ich, wie sich einige Männer an der Zerstörung der Synagoge zu schaffen machten. Ich sah, wie die Männer die Fensterkreuze einschlugen und die Gebetbücher sowie Inventar der Synagoge aus den zertrümmerten Fenstern warfen.“ Sch. hatte sie ganz deutlich gesehen, „wie er damit beschäftigt war, ein Fensterkreuz der Synagoge zu zerstören“.

Zwei weitere Zeugen identifizierten Sch. unabhängig voneinander als einen der Tatbeteiligten. In einer der Aussagen hieß es: „Weiter stellte ich fest, daß ein gewisser Gustav Sch. sich ebenfalls an der Zerstörung der Synagoge beteiligte, indem er eine Bank nahm und die Fensterkreuze der Synagoge einschlug... Einen Irrtum meinerseits halte ich für völlig ausgeschlossen, da mir Sch. bekannt war und auch seine Stimme zu hören war.“ Eine andere Zeugin gab sogar an, daß von den Beteiligten der Name des Angeklagten gerufen worden sei.

Am 16. Juli 1947 klagte der Oberstaatsanwalt bei dem Landgericht in Hamburg den Fuhrmann Sch. an, sich u.a. am 9. 11. 1938 „an einer öffentlichen Zusammenrottung einer Menschenmenge, die mit vereinten Kräften gegen Sachen Gewalttätigkeiten beging, teilgenommen und selbst Sachen vernichtet und zerstört ... ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit – Verfolgung aus rassischen Grün- den – begangen zu haben.“

Die Strafkammer 9 des Landgerichts Hamburg sprach Sch. am 9. 10. 1947 wegen Mangels an Beweisen frei. Grundlagen des Freispruchs waren vor allem Zweifel des Gerichts an den Aussagen der Hauptbelastungszeugen und deren eindeutiger Identifizierung des Beschuldigten. Zwar wurde den Zeugen zugebilligt, „daß sie subjektiv die Wahrheit gesagt haben. Jedoch bestehen gegen die objektive Richtigkeit ihrer Bekundungen erhebliche Bedenken“.

In dem Urteil des Gerichts hieß es, „daß die Zerstörung des Tempels von einem geschlossenen Trupp, der von einer Zentralstelle eingesetzt gewesen war, vorgenommen worden sein muss und nicht von einer Menge, die sich spontan zusammengeschlossen und der sich der Angeklagte angeschlossen hatte. Hierfür spricht die Beobachtung der Zeugin M., die die Beteiligten geschlossen abrücken gesehen hat, und die Beobachtung der Zeugin P. Aus der Bekundung der Letzteren geht besonders hervor, daß es sich um einen zentral gelenkten Einsatz gehandelt haben muß. Danach ist es Aufgabe der begleitenden Kriminalbeamten gewesen, dem mit der Durchführung beauftragten Trupp den Weg freizumachen und etwa auftauchenden Widerstand zu beseitigen. Dieser Trupp selbst setzte sich aus Angehörigen von SA- und SS-Einheiten zusammen. Dafür, daß dieser Trupp von einer Zentralstelle aus eingesetzt gewesen ist, spricht ferner die Bekundung des Zeugen Sch., der ausgesagt hat, daß er, als er an dem betreffenden Morgen die Polizei angerufen hätte, von dieser die Antwort erhalten hätte, daß er sich nicht um den Vorgang im Tempel kümmern, sondern sich lieber schlafen legen solle. Hieraus ergibt sich klar, daß die Polizei von dem Vorgang verständigt war und die Anweisung erhalten hatte, nicht einzugreifen.“

Der Angeklagte verließ das Gericht als freier Mann. Das Verfahren immerhin hatte die Behauptung von den angeblichen „spontanen Kundgebungen“ in der Pogromnacht als nationalsozialistische Propaganda entlarvt. Die ehemalige Hamburger Oberstaatsanwäl- tin Helge Grabitz schreibt in ihrem jüngst erschienenen Buch „Täter und Gehilfen des Endlösungwahns“ über die beiden Hamburger Prozesse zur Pogromnacht, daß „hinsichtlich beider Verfahren ...Bedenken irgendwelcher Art nicht anzumelden“ sind.

„Nach Bekanntwerden des Ablebens des durch feige jüdische Mörderhand niedergestreckten deutschen Diplomaten Pg. vom Rath haben sich im ganzen Reich spontane Judenkundgebungen entwickelt... In der Erinnerung an die Bekanntgabe über die großen in jüdischen Händen gefundenen Waffenmengen und auf das Gerücht hin, daß in den Synagogen weitere Waffen versteckt sein sollten, wurden von den Kundgebungsteilnehmern einige Synagogen geöffnet. Die Kundgebungen richteten sich im einzelnen gegen die Kleine Synagoge an der Rutschbahn, die kleine Dammtor-Synagoge in der Beneckestraße und das Haus der Israelitischen Gemeinde in der Rothenbaumchaussee.“

„Hamburger Tageblatt“ vom 10. 11. 1938.

„Gitta und ich schnellten aus unseren Betten und rannten barfuß zum Fenster des elterlichen Schlafzimmers, wo sich uns ein unheimliches Schauspiel bot: Am anderen Ende des Hintergartens stand die Klaus. Durch ein Fenster sahen wir den brennenden Kronleuchter, von unsichtbaren Händen bewegt, wie ein Pendel vorwärts und rückwärts schwingen, in immer größeren Umlauf. – Krach – Dunkel. Ein Fenster öffnete sich, ein Stuhl flog heraus, fiel zur Erde und zersplitterte. Ihm folgte noch ein Stuhl und noch einer, und dann war alles still. Was hatten sie nun vor ? Wir brauchten nicht lange zu warten. Eine weiße Schlange hüpfte vom Fenstersims und glitt runter, sie schien endlos.

„Thorarollen, stießen wir hervor, unsere Augen wollten es nicht glauben. Papa rannte in unser Zimmer zurück, das zur Straße lag. Er kam gleich wieder. „Ja, sie sind da. Mehrere Polizisten stehen auf der anderen Straßenseite – sie warten darauf, daß die gottlosen Vandalen ihr Werk beenden.“

Auszug aus den Erinnerungen von Betty Batja Rabin, geb. Emanuel. Die 1939 nach Palästina emigrierte Betty Rabin lebte zuvor in der Rutschbahn 11.