■ Schlagloch
: Egal, was dann kommt: Die Moral ist am Ruder Von Klaus Kreimeier

„Wir stehen in voller Festigkeit.“ J. Fischer, 31.3.99

Der Vietnamkrieg war von Beginn an kein gerechter Krieg, sondern eine mörderische Aggression – und nicht zuletzt diese Einsicht hat den Umschwung bewirkt, der damalige Kriegsgegner wie Bill Clinton, Tony Blair, Gerhard Schröder, Rudolf Scharping und Joschka Fischer heute in Spitzenpositionen der westlichen Machtausübung befördert hat. Die Moral ist am Ruder, und mit ihr hat der gerechte Krieg seine Gloriole zurückgewonnen. Und nicht minder die finstere Entschlossenheit, der Gerechtigkeit zum Endsieg zu verhelfen, was dann kommen mag.

Joschka Fischer hat das strategische Ziel präzise formuliert: Der Automatismus, der seit der Schlacht auf dem Amselfeld dahin führt, daß nicht nur die Völker auf dem Balkan einander massakrieren, sondern fatale Bündnislogik die jeweils involvierten Großmächte in einen Weltkrieg treiben kann, muß vor dem Wechsel zum 21. Jahrhundert gestoppt werden – wenn die Hoffnung auf ein zivilisiertes Leben in Europa Bestand haben und zumindest in der nördlichen Hemisphäre für eine glückliche Minderheit Demokratie und Wohlstand in halbwegs gesicherten Verhältnissen erhalten bleiben sollen. Ruanda ist Afrika; Ruanda in Europa: das wäre ein Rückfall in das 1945 abgeschlossen gewähnte Mittelalter des Rassismus, des Genozids. Fischer hat recht: Gegen den massenmörderischen Belgrader Despoten führt die Nato einen gerechten Krieg.

Der politisch brisante Schönheitsfehler dieses Krieges besteht freilich darin, daß er mit den Vertragsgrundlagen von Rambouillet seine eigene Ausgangsposition zerschlagen und dem Kriegsverbrecher in Belgrad geholfen hat, seine Vernichtungs- und Vertreibungsstrategie gegen die Kosovo- Albaner zu forcieren, mit den Resten der demokratischen Opposition aufzuräumen, die angrenzenden labilen Staatsgebilde weiter zu destabilisieren und die uralten Rivalitäten im südosteuropäischen Raum so wirkungsvoll ins böse Spiel zu bringen, daß plötzlich strukturelle Analogien zu jener Lage sichtbar werden, die im August 1914 den Mordorgien dieses Jahrhunderts alle Schleusen geöffnet hat. Die Analogien sind um so beklemmender, wenn man in Betracht zieht, daß auf dem Weg zu den Nato-Bombardements das politische Instrumentarium der Vereinten Nationen geopfert wurde, das 1914 noch undenkbar und erst mit dem Völkerbund nach dem Ersten Weltkrieg in Konturen erahnbar war. Die Bomben auf Belgrad werfen die Geschichte um achtzig Jahre zurück.

Die Nato – ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und doch nur Böses schafft? Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis, das, in der Logik des Kalten Krieges, schon immer auf die Option des präventiven Angriffs gedrillt war. Ein Bündnis eisenharter Pazifisten, darauf eingeschworen, dem einmal erkannten Erzfeind nicht nur mit Auslöschung, sondern mit dem Overkill zu drohen. Eine Strategie, die auf das Überbietungspotential, auf hundertfache Vernichtung setzt und ihre Arsenale entsprechend aufgerüstet hat. In den Jahren des Kalten Krieges und der gegenseitigen atomaren Bedrohung funktionierte dieses Konzept perfekt – mit dem Resultat, daß schließlich die gegnerische Macht ökonomisch ausmanövriert und zusammenbruchsreif war. Ohne ebenbürtigen Gegner, ohne geopolitisches Konzept kann die Nato nur noch mit ihrer jeweils neuesten „Dicken Berta“ auf wild gewordene, allerdings gefährlich-unberechenbare Spatzen schießen.

Das Schlimme ist: Die Nato selbst ist politikuntauglich. Sie ist für Totales konstruiert, für die Durchsetzung des totalen Friedens, der totalen Gerechtigkeit, der totalen Moral. Das macht sie zu einer totalitären Maschinerie, obwohl die Politiker, die sich als ihre Manager betätigen, verschwommen ahnen, daß die realen Verhältnisse in der Welt komplizierter und mit totalen Lösungen nicht zum Guten zu wenden sind. Sie haben zwei Schaltkreise zu bedienen, die nicht kompatibel sind: die Verhandlungsregularien der Kompromisse, des klugen Abwartens, die „Kunst des Möglichen“ – und die Systemlogik eines militärisch-technologischen Apparats, der schnell seine Eigendynamik entfesselt und im Extremfall seine politischen Kommandeure in eine Situation bringt, in der sie sich fragen müssen, ob das Ziel, das sie verfolgen, nicht mit jeder Maßnahme, die sie in Gang setzen, in größere Ferne rückt.

In eben diese Situation haben sich die Nato-Staaten jetzt hineinmanövriert. Die Systemlogik des militärischen Apparats schreibt nach den Bombardements, die Milošević geschwächt, bisher aber nicht zur Aufgabe gezwungen haben, unweigerlich den massiven Einsatz von Bodentruppen vor – eben jene Eskalation, die nicht nur die ursprünglichen politischen Zielsetzungen zunichte machen, sondern den gesamten Balkan und womöglich noch viel mehr in Brand setzen würde. So kann ein gerechter Krieg, wenn die Moral auf das politische Instrumentarium verzichtet und in die Marschflugkörper schlüpft, ins Gegenteil kippen und schon überwunden geglaubte Gefahren aufs neue heraufbeschwören. Politik ohne Moral mag verwerflich sein – Moral ohne Politik jedoch hat oft schlimmere Folgen.

Für die Annahme, daß die derzeitigen Akteure dem Dilemma gewachsen seien, fehlt jedes Indiz. Von Clinton über Blair bis Schröder: die Politiker der Generation von 68 stecken nicht nur in der Moralfalle, sie sind auch in die Medienfalle geraten, die sie zu Mimen degradiert. Wohlmeinende Fernsehstars in den Rollen von Staatslenkern verwalten, von heute auf morgen, eine hochexplosive Situation; das Beste, was sich von ihnen sagen läßt, ist, daß ihre Ratlosigkeit, ihre düsteren Mienen nicht gespielt sind. Sie sind weder Kriegstreiber noch Waffenfans, und den moralischen Auftrag, von dem sie reden, müssen sie nicht zusammenlügen. In jedem seiner Statements fleht Fischer nachgerade nach einer „politischen Lösung“ – aber wie alle ist er gekettet an eine Maschine, die für politische Lösungen nicht taugt.

Der Politikertypus der Gegenwart moderiert: zwischen den Gewalten, die ihn im Griff haben, und dem großen Publikum. Er hat es gelernt, den Wählern die Gesetze der wirtschaftlichen Globalisierung als Naturgesetze zu vermitteln und den Maßnahmen, die daraus entspringen, den Anstrich politischer Entscheidungen zu verleihen. Kein Anzeichen deutet darauf hin, daß der neue Typus des politischen Zauberlehrlings – nun, da er den eisernen Besen schwingt – zur Freiheit des politischen Handelns, zum Denken in Alternativen und zum Umgang mit der Kontingenz in der Geschichte erwachen könnte. Im Gegenteil: Unsere Moderatoren blicken fest in die Kameras – aber wie in Trance.

Scharpings somnambul-mechanischer Gang, Schröders vorgeschobene Kinnlade und Fischers tief zerfurchte Stirn sind die derzeit authentischen körpersprachlichen Signaturen einer Situation, deren Beherrschbarkeit in dem Maße entschwindet, wie sie von Tag zu Tag „glaubwürdiger“ demonstriert werden muß.