Dichten unterm Staudamm

■ Heute liest die chilenische Indiofrau Rayen Kvyeh Gedichte über Araukarienbäume und Levkoyen und erzählt von Enteignung und Deportation

Nicht erst seit dem neuen Asylgesetz haben Folteropfer in unserem Land wenig zu lachen. Als Rayen Kvyeh im Jahr 1981 dank dem Einsatz von Amnesty International den Gefängnissen Piochets entschlüft (oder sollte man eher sagen, herausgekrochen) ist und – rollstuhlreif gefoltert – in Freiburg ankam, dann mußten sich Freunde und Anwälte erst einmal mit den Behörden balgen, damit sie aus dem unerträglichen Streß des Asylbewerberheims herausdurfe. Asyl wurde ihr angeblich erst nach peinlichen (peinigenden) zwei Jahren gewährt. Zwei Jahre keine Arbeit, keine Möglichkeiten zu studieren oder auch nur die Stadt zu verlassen: Wir kennen das – aber eigentlich doch nicht wirklich.

Noch immer haben die Augen der Mapuche-Indianerin einen unheilvollen Drang zur Runzelbildung, die Mundwinkel einen Zug nach unten. Doch längst ist sie wieder politisch in Chile aktiv. Und nicht nur dort: Die nächsten drei Monate tourt sie quer durch Deutschland und Skandinavien, um ihre Gedichte vorzulesen und von der Misere ihres Volkes zu erzählen. Den Flug hat eine kleine grünennahe Initiative aus Freiburg bezahlt. Unterkunft werden wohl hoffentlich die einzelnen Veranstalter vor Ort organisieren: Wenn man mit zehn Dollar in der Tasche in einem anderen Land am Flughaven steht, kann ein gewisses Gottvertrauen gar nicht schaden. Außerdem hat Rayen Kvyeh aus alten Freiburger Tagen hier noch gute Freunde. „Die haben damals mein Exil weniger bitter und traurig gemacht“, und sind noch heute „Wasser in der Wüste“ namens Deutschland. 1984, nach knapp vier Jahren „betonischer Wüste“, ging Rayen Kvyen ins sandinistische Nicaragua, um ihre indigenen „Brüder und Schwestern“ kennenzulernen. Und stellte fest, daß sie, die Chilenin, auf heiligem Territorium nächtigen durfte, zu dem die nicaraguanischen Indios ihre hispanoiden Landsmänner den Zugang verwehrten. „Wir Indios, egal in welchem Land, haben dieselben Kosmovisionen des Lebens“, schwärmt Rayen Kvyeh mit sprachinnovativem Charme.

Diese „Kosmovisionen“ trieben sie 1988 nach Chile zurück, drei Jahre vor Pinochets Abtritt. „Ich bin eine Tochter der Erde und wollte wieder die Stimme der Flüsse hören.“ Für jene Stimme nahm sie so einige Ängste in Kauf. In einer politisch engagierten Wohngemeinschaft mit acht Frauen war es gute Sitte, die Türen nicht abzuschließen: Wenn die Militärs oder – noch schlimmer – die zivile Polizei kämen, müßten sie die Tür zertrümmern, und man hätte dann den Salat. Die Foltergeschädigte allerdings fand eine dahingemetztelte Tür nicht annähernd so furchtbar wie die Vorstellung, daß da plötzlich unfreundliche Leute ungehört vor ihrem Bett stehen könnten.

Bald gründet sie ein kleines Kulturzentrum. Dort berät und organisiert sie in künstlerischen und sozialen Belangen. Schließlich hat sie einst unter Allende Arbeitsrecht und Theaterdramaturgie studiert. Seit neun Jahren ist Rayen Kvyeh Mitpublizistin die Vierteljahreszeitschrift „Mapu Nuke“ mit einer Auflage um die 1.000. Diese 1.000 Stück richten sich nicht nur an die etwa 1,4 Millionen Indios, sondern auch an den 13 Millionen-köpfigen Rest – Sisyphosarbeit, pur. „Obwohl wir hier in diesem Land leben, wissen die meisten Chilenen so gut wie nichts über uns.“ Ein paar wenige Studenten, ein paar machtlose Ökoinstitute als redliche Mitstreiter: Im gebeutelten Land haben nicht besonders viele den Nerv, an die Indios zu denken. Die Zeitschrift wendet sich auch an Indios der zweiten und dritten stadterprobten, assimilationswilligen Generation. Sprachlektionen wollen ihnen bei der Wiederaneignung der Indiosprache Mapudungun helfen.

Es geht um die „Rückeroberung unseres Landes“. Das heißt nicht Seperatismus, aber Autonomie. Rayen Kvyeh ist zuversichtlich. Denn die Indios Chiles sind die einzigen, die niemals einer strengen Hierarchie gehorchten. „Es gab keinen politischen Kopf, den die Spanier absäbeln hätten können. So genossen wir immerhin drei Jahrhunderte relative Selbständigkeit und gelten noch heute als die besten Kriegerinnen und Krieger.“ Kriegerinnen und Krieger: Mit Lonco (Häuptling) und Machi (Heilerin) ist die Mapuche-Society weder patriarchal noch matriarchal.

Derzeit ist der Lebensraum von 30.000 Indios bedroht durch ein 250 Millionen Dollar-Staudammprojekt am nur 380 km langen, aber breiten, wasserreichen Bio-Bio-Fluß. Finanziert von der Weltbank, Schweden, Spanien und den USA sollen 22.000 Hektar überflutet werden. Der erste von sechs Dämmen wurde Anfang –98 fertiggestellt. Doch der Widerstand der Indios verhinderte, so Kvyeh, die Inbetriebnahme. Autobahnartige Straßen durchplügten rücksichtslos eine Comunidad. Reihenweise fielen die Araukarienbäume (von den Indios Pehuen genannt und heilig). „Die tragen erst nach 100 Jahren ihre ersten Früchte. Ein Verbrechen. Und wenn nur eine einzige Frau überbleibt, muß diese eine Frau gegen den Unsinn ankämpfen.“ Entschädigung gab es übrigens angeblich keine.

Jochen Plumeyer, Kvyehs Bremer Bekannter, konnte das Drama der Umsiedlung bei seinem sechsmonatigen Chileaufenthalt ab Herbst 1996 live miterleben. Nicht schlecht staunte er über eine Comunidad, in der die Leute so lustlos und träge waren, daß sie eine gekappte Wasserleitung nach einem Jahr noch nicht repariert hatten. Außerdem mußte er erkennen, wie – schon unter Pinochet – die Lebensqualität von Millionen den vom Westen importierten Götzen namens „Inflationsbekämpfung“, „Konsolidierung der Staatsausgaben“, „Wirtschaftsförderung“ geopfert werden. Und er stellte fest, daß Comunidades von der Regierung unterstützt werden, wenn sie geschlossen die Democratia Cristiana wählen. Seither gebraucht er das Wörtchen „Demokratie“ sicherheitshalber in Anführungsstrichen.

Ihre Zeitschrift macht Kvyen in einer 130.000 Einwohnerstadt 600 km südlich von Santiago. Den Sommer über lebt sie aber lieber in einer 200-Seelen-Gemeinde vor gigantischer Andenkulisse. „Nein, nicht Gemeinde. Gemeinschaft!“

Barbara Kern

Lesung am 8. April um 19 Uhr in der Villa Ichon