„Wir sind die Mehrheit, aber was nutzt das?“

Die Bombardierung Jugoslawiens vergrößert die Spannungen in Bosnien. Mancher in Sarajevo gönnt den Belgradern die Erfahrung Luftschutzbunker. Die meisten fürchten aber ein Aufflammen eigener ethnischer Konflikte  ■ Aus Sarajevo Klaus Buchenau

Auf dem staubigen Bahnhofsvorplatz von Sarajevo warten einige hundert Leute, die keiner abholt. Sie stehen in kleinen Grüppchen herum, sitzen auf riesigen Taschen, telefonieren, gestikulieren. Wenn sie lachen, zeigen viele schlechte Zähne. Die meisten von ihnen sind Männer im „wehrfähigen Alter“, aber es sind auch Kinder und Frauen dabei. Die meisten sind slawische Muslime aus dem Sandžak, einem Gebiet, das zwischen dem Kosovo und Bosnien liegt und zu Serbien gehört.

„Ich war acht Tage in der jugoslawischen Armee, aber dann bin ich nachts abgehauen“, sagt der 20jährige Mustafa. „Zu Fuß habe ich mich dann an den serbischen Grenzkontrollen vorbeigeschlichen, denn wenn die herauskriegen, daß ich desertiert bin, komme ich sofort in den Knast.“

„Ich will nach Deutschland.“ Die anderen Jungs, ähnlich wie Mustafa in Lederjacke und mit Goldkettchen, nicken. Alle wollen nach Österreich oder Deutschland. Daß der bosnische Präsident Alija Izetbegović die Muslime aus dem Sandžak zu Bosnjaken und Bosnien zu ihrer Schutzmacht erklärt hat, interessiert sie nicht. „Hier gibt es weder Geld noch Arbeit“, meint Sinan, der geflohen ist, noch bevor er den Einberufungsbefehl in die jugoslawische Armee bekam. Dreihundert Mark hat er dem serbischen Grenzer bezahlt, damit er ihn durchläßt. Ethnisch gesäubert zu werden ist eben auch nicht immer kostenlos.

Mittlerweile sind in Bosnien- Herzegowina 11.000 muslimische Flüchtlinge aus dem Sandžak registriert, aber auch 14.000 Kosovo- Albaner und 2.000 Serben. Während die Albaner, die über Montenegro nach Bosnien kommen, vor direkter Aggression fliehen, ist es im Sandžak bislang nur die Angst, nach dem Kosovo als nächstes an der Reihe zu sein. „In unserer Kleinstadt Sjenica sind die Muslime mit 75 Prozent in der Mehrheit“, sagt Sinan, „aber das wird uns nichts nützen, wenn Arkans ,Tiger‘ kommen.“ Es gibt auch andere Stimmen. „Meine Nachbarn wollten nicht gehen. Sie haben ein gutes Verhältnis zu ihren serbischen Nachbarn und wollen abwarten, wie sich die Situation entwickelt“, sagt eine junge Mutter.

Der Belgrader Mufti Hamdi Jusufspahić, ansonsten bekannt für seine jugonostalgischen Ansichten und sein angespanntes Verhältnis zum eher islamistischen Alija Izetbegović, stimmt gar in den Belgrader Anti-Nato-Chor ein: „Diejenigen, die sich der Welt als kultiviertes Volk zeigen, ... sind unsere Feinde. Wir wissen, was sie unseren Brüdern in Somalia, Palästina und im Irak antun.“

Die Stimmung bei Jusufspahić' „Brüdern“ in Sarajevo ist allerdings ganz anders. „Auf unsere Stadt sind von 1992 bis 1995 vier Millionen Granaten niedergegangen. Und diese Granaten galten im Gegensatz zu den Nato-Bomben tatsächlich der Zivilbevölkerung. Nein, ich freue mich, daß die Belgrader, die sich nie besonders für unser Leiden hier interessiert haben, nun auch einmal Erfahrungen mit dem Leben im Luftschutzkeller machen dürfen“, meint der pensionierte Ingenieur Emir. Damit vertritt er ohne Zweifel die Mehrheit der bosnischen Muslime. Der Vizevorsitzende des bosnischen Ministerrats, Haris Silajdžić, hat öffentlich gefordert, der Westen müsse dieses Mal „bis zur letzten Konsequenz“ gegen das serbische Regime vorgehen und Bodentruppen in das Kosovo schicken.

Die Reaktion der bosnischen Serben kam prompt: Silajdžić müsse von seinem Posten als stellvertretender Ministerratsvorsitzender entfernt werden, forderte am Wochenende der Informationsminister der Republika Srpska, Rajko Vasić.

Wütend waren die Reaktionen auch, als die internationale Gemeinschaft die Bahnlinie von Belgrad ins montenegrinische Bar verminen ließ, die teilweise über bosnisch-serbisches Territorium führt: Damit habe sich die SFOR in den Dienst der Aggression gegen Jugoslawien gestellt und den Vertrag von Dayton verletzt, verkündete am Montag der serbische Vorsitzende des bosnischen Präsidiums, Zivko Radisić, und forderte deswegen eine Sitzung des UN-Sicherheitsrats. Und der Parlamentsvorsitzende der Republika Srpska, Petar Djokić, kündigte am Sonntag die Bildung einer bosnisch-serbischen „Regierung der nationalen Einheit“ an.

Die bosnischen Muslime reagieren auf diese Radikalisierung mit Unruhe, aber bislang nicht mit Panik. Laut einer Umfrage der Tageszeitung Dnevni avaz glauben nur 26 Prozent der Bevölkerung in Sarajevo, Zenica und Tuzla daran, daß radikale Kräfte in der Republika Srpska Chaos in der Föderation hervorrufen können. Die Kroaten, mit 17 Prozent das kleinste der Völker in der bosnisch-herzegowinischen Föderation, freuen sich über die Bomben auf Belgrad mindestens ebenso wie die Muslime. In der kroatischen Presse ist in diesen Tagen ein triumphalistischer Zug nicht zu übersehen. Neben der Abrechnung mit Milošević, die allgemein gutgeheißen wird, geht es für die in der Herzegowina zahlreichen kroatischen Nationalisten auch um die Ausschaltung eines alten Konkurrenten, der zumindest im 20. Jahrhundert der überlegene war.