Ein Pferd namens Satan

Frauen, Pistolen, Wilder Westen: Die Briefe der Revolverheldin Calamity Jane und ein Roman von Jane Smiley über das Leben der „Lidie Newton“ im Modellvergleich. Amerikanisierung durch Häuslichkeit oder Wie der Wilde Westen auch gewonnen wurde    ■ Von Anke Westphal

Der wilde Westen ist eine Projektion von Wünschen und Hoffnungen. Sofern sich diese Projektion auf die Siedlerinnen richtet, verkommt sie leicht zum Heimatfilm: Adrette Frauen in weiten Röcken und karierten Blusen blikken, das Gewehr geschultert, von der Treppe eines Blockhauses auf die Weite der Prärie. Dieses Bild richtet sich nicht nur auf den Gegensatz zwischen freiem Land und den engen Miasmen der Stadt, sondern verdankt sich vornehmlich Hollywood.

Die durch Überlieferung bekannte und durch Mythen geschönte Wahrheit lautet indes, daß alles immer ganz anders war. Die Frauen des Wilden Westens rakkerten sich ab wie Tiere und starben jung, meist um die Dreißig. Die wenigsten wurden erschossen oder skalpiert. Die meisten verhungerten, oder sie erfroren mit ihren Säuglingen, weil die Blockhütten die Winterkälte nicht aussperrten. Der Rest wurde vom Fieber ausgezehrt, wenn im Frühling die Erde taute und im Sommer die Hitze brütete. Die politisch wichtige Aufgabe der Siedlerinnen, die man weiter in In- und Outsider teilen muß, lag in der Amerikanisierung der Wildnis durch „Häuslichkeit“.

Jane Smiley, Pulitzer-Preisträgerin („A Thousand Acres“), fast fünfzig Jahre alt und mit gut 1,80 m gern hohe Absätze tragend, beschreibt den wenig glanzvollen Wilden Westen in ihrem Roman „Lidie Newton. Die wahre Geschichte eines abenteuerlichen Frauenlebens“. „Lidie Newton“ ist ein sonderbarer und fesselnder historischer Roman, der, „ganz Stil und Manier“, im Ton eines klassischen Bildungsromans geschrieben wurde. Lidie, eine nicht unbedingt schöne, aber zum Reiten und Schießen um so befähigtere junge Frau von 21 Jahren, erzählt die Vollendung ihrer menschlichen Reife in politisch bewegten Zeiten.

Lidie zieht um 1854 mit ihrem Mann, einem Abolitionisten, nach Kansas, wo sie in jene Unruhen zwischen Sklavereigegnern- und befürwortern gerät, die später unter dem Begriff „Bleeding Kansas“ in die Geschichte eingehen sollten.

Der Westen, in schönen Inseraten des heimatlichen Ostens nach Maklerart als Land mit gesundem Klima („im Winter nie unter vier Grad!“) und blühenden Leihbibliotheken angepriesen, wird von Jane Smiley als die historische Möglichkeit angelegt und untersucht, die er für Frauen tatsächlich darstellte: „Die Menschen brachten nicht soviel Interesse für diesen oder jenen auf, denn sie hatten mit den eigenen Angelegenheiten genug zu tun. Folglich blieb einem als Frau genügend Bewegungsfreiheit, um eigene Wege gehen zu können.“

Neue Staaten wie Wyoming führten als erste das Frauenwahlrecht ein, um Frauen anzulocken – auf sechs Männer kam 1869 im Westen nur eine Frau. Unversorgte, als unschön geltende Frauen zogen gen Westen, um Witwer mit vielen Kindern zu heiraten, die die erste oder zweite Gattin verschlissen hatten. Lidie jedoch reist, als Mann verkleidet, durch Kansas und Missouri, um ihren von Südstaatlern erschossenen Mann zu rächen. Unter dem Pseudonym „Isaac Newton“ schreibt sie sogar für die Zeitung.

Das liest sich zunächst interessant. Doch als die Hosen passen und die Haare abgeschnitten sind, dient Lidies Rollenwechsel der Autorin zu einem ausgiebigen Pro und Contra zur Erweiterung sozialer Handlungsräume unter einer Tarnkappe. Lidie muß als Mann nicht mehr schön sein, gerät aber in Gefahr, brutal „zu verrohen“, denn „eine Frau verroht durch nichts mehr als dadurch, daß sie zu einem Mann wurde“.

Die Aufarbeitung von so vielen – historischen, ethnologischen, emotionalen – Projektionen führt unvermeidlich zu neuen Projektionen: zu moderat feministischen und moderat postdemokratischen. „Lidie Newton“ ist ein sehr unterhaltsames Beispiel dafür, daß der historische Roman immer eine Interpretation von Gegenwart bleiben muß. Lidie wird unter dem Druck der Umstände zu einem Menschen, „der zu sein ich nie gewünscht und nie erwartet hatte.“ Am Ende scheitert ihre Rache so, wie die Frau nun einmal keine Geschichte macht, sondern die Geschichte(n) erzählt. Das Fazit lautet, daß man letztlich nichts wirklich wissen kann, schon gar nicht über die „Guten“.

Der Westen war und ist immer noch gefährliches Terrain – das Land, „wo sich Überlebende der Gegenwart und der Zukunft versammelten, seien es historische Figuren, Romanciers oder – Historiker. Nach einer neueren Debatte um die Einführung des Begriffs „conquest“ anstelle von „frontier“ soll der Westen plötzlich nicht mehr als Tabula rasa des weißen Mannes gelten, sondern als Konfliktgebiet disparater Ethnien. Indianer, Mexikaner, Asiaten, Afroamerikaner und Europäer verschiedenster Herkunft kämpften um ihren Platz in der neuen Neuen Welt. Nicht geändert hat die Debatte die Vorstellung des „conquest“ als einer Männersache. Zahlreiche Erzählungen von Siedlerinnen darüber, wie der Westen gewonnen wurde, haben das nur wenig geändert, folgen sie doch in ihrer Verschiedenartigkeit dem sozialen Rang und den Überzeugungen der jeweiligen Schreiberin.

So hat Elisabeth Custer, die Frau des Generals Custer, Bücher zum Ruhm ihres Mannes verfaßt. Die Frauenrechtlerin Abigail Duniway schilderte 1859 die Passage über die Plains nach Oregon. Juliette Augusta Magill Kinzie veröffentlichte 1856 „Wau-bun: The Early Days in the North-West“, ihr Hauptwerk, das die schon 1844 anonym gedruckte Erzählung des Massakers von Chicago enthält. Das „Diary of Susan Shelby Magoffin: Down the Santa Fe Trail and into Mexico“ verdankte seine Erstveröffentlichung im Jahre 1926 allein einer unermüdlichen Bibliothekarin. Die nächste Auflage in den USA erfolgte erst vierzig Jahre später.

Es stirbt sich schnell. „Lärmend-betrunkene Selbstverherrlichung“ nennt Martha Jane Cannary, besser bekannt unter dem Namen Calamity Jane, das in ihren Briefen. Die von der Siedlerinnen wegen ihres Lebensstils geächtete Calamity Jane wurde in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts durch eine Reihe von Groschenheften als schöne Begleiterin Wild Bill Hickoks berühmt, mit „Brüsten von alabasterner Reinheit“. Doch Jane Cannary Hickok hatte eine Tochter, die sie Freunden zur Adoption gab. Das Kind war die Frucht einer stürmischen Ehe zwischen ihr und Wild Bill, einem der berühmtesten Revolverhelden des Wilden Westens neben Buffalo Bill. Wild Bill Hickok soll ein für Siedlerverhältnisse ungewöhnlich gepflegter Mann gewesen sein, das Hemd immer strahlend weiß – ein Dandy. Calamity Jane zog in Männerkleidern gelegentlich als sein Partner durchs Land, meist aber „nur so aus Abenteuerlust und wegen der Aufregung“. Ihr Pferd nannte Jane Satan; glücklich war sie nicht. Nach ihrer Niederkunft machte sich Wild Bill davon, und die Ehe wurde, vornehmlich Janes rasender Eifersucht wegen, geschieden. Wenn jemand „eine blöde Bemerkung machen wollte, habe ich mich auf der Stelle umgedreht und ihn zu Boden geschlagen“.

Das Leben der Calamity Jane bietet – wie das des weiblichen Scouts Ann Bailey (1742 – 1825) – zunächst alle Ingredienzien für eine mechanisch-feministische Verwurstung. Jane arbeitete als Postkutschenfahrerin und Jägerin, Krankenschwester, Bedienung im Saloon und als Scout für die Generäle Custer und Miles, denn nur sie konnte ungeschoren Indianerland betreten. „Sie (die Indianer) denken, ich bin ein verrücktes Weib, und belästigen mich nie.“ Mythen haben Calamity Jane zu einem rauhen Flintenweib gemacht, das sich gelegentlich als Freudenmädchen umtat. Die Handvoll Briefe, die Martha Jane Cannary zwischen 1877 und 1902 an ihre Tochter schrieb, aber zur Sicherheit des Kindes nie abschickte, werfen ein anderes Licht auf diesen Mythos des Wilden Westens und auch auf die Mythen über den Mythos. „Es hat mich fast umgebracht, dich herzugeben“, schreibt sie 1880 an ihre Tochter. Der Konflikt scheint klassisch: „Ich kann nicht zur gleichen Zeit arbeiten und es [ein Kind] versorgen ... Siehst Du, ich trage Hosen, so kann ich mich bewegen, während diese berockten Weibchen gleich um Hilfe schreien.“ Die Lebenswahl wird teuer bezahlt.

„Ich werde nicht sehr alt, Janey“, schreibt Calamity Jane zwischen 1887 und 1890. Da ist sie an die Vierzig. „Ich kann dieses furchtbare Leben nicht viel länger aushalten.“ Calamity Jane hat – halb vorsorglich, halb aus Verachtung für die Bigotterie der Siedler – ausgiebig für ihren eigenen Mythos gesorgt und viele, viele Lügen erzählt, „nur um zu hören, wie diese Holzköpfe ihre verfaulten Zungen rühren. Alle meinen, daß ich nicht einmal meinen Namen lesen oder schreiben kann. Ich lasse sie in dem Glauben. Ich denke, es ist besser so.“ Gern erzählt sie die „teuflische Lebensgeschichte“ und verschaukelt selbst ihren Biographen. Das tut sie, weil sie ein so unabhängiger wie einsamer Mensch ist. „Sie hatte keine Gruppenwerte“, schreibt die Herausgeberin der Calamity-Jane-Briefe, Elisabeth Kiderlen.

Mag man dem Selbstbild da trauen? Trauen kann man den Widersprüchen zwischen Mythos und Wirklichkeit immer. Was für ein Eiertanz vor sich selbst entfaltet sich da: Calamity Jane trägt Männerkleider, pokert, reitet, schießt, und manchmal hat sie „einen kleinen Schwips“. Martha Jane Cannary hingegen legt höchsten Wert darauf, daß die kleine Janey ein eheliches Kind mit allen bürgerlichen Rechten ist, schöne Kleider trägt und von einem Privatlehrer unterrichtet wird. Sie übermittelt der Kleinen Rezepte für Kuchen, Hefe und Saucen.

Wieder und wieder ist die Rede davon, daß diese seltsame Revolverheldin kinderreichen Familien „Kleider und Essen kauft“, verlassene Kinder aufnimmt und für deren Ausbildung sorgt. Die Mittel für solche Herzensgüte gewinnt sie beim Pokern; schnell hatte sie 20.000 Dollar zusammen – und verschenkt. Freundinnen kennt sie indes nie. Sie leidet unbeschreiblich: „Warum kann ich nie jemand sein, auf die es ankommt.“ Am Ende kann Calamity Jane nicht mehr schießen. Ihre Augen sind erblindet. Ins Grab nimmt sie mit, „was ich bin und was ich hätte sein können“ – die Wahrheit, die man nicht wissen kann. Darin trifft sie sich dann doch mit Lidie Newton. Jane Smiley: „Lidie Newton. Die wahre Geschichte eines abenteuerlichen Frauenlebens“. Aus dem Amerikanischen von Manfred Ohl und Hans Sartorius. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999, 639 Seiten, 49,90 DM Calamity Jane: „Briefe an ihre Tochter“. Mit Materialien herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Kiderlen. Stroemfeld, Frankfurt am Main 1991, 96 Seiten, 18 DM