Jeder Tag zählt

■ Recht auf Leben: Die Nato muß den Krieg verschärfen und das Bombardement Serbiens durch eine Teilinvasion ins Kosovo ergänzen

Die Deportierten, die Verjagten, die von Mord bedrohten Menschen im Kosovo haben ein Recht auf Leben, und sie haben es jetzt. Diesem Recht entspricht eine moralische Pflicht auf seiten derjenigen, die ihr Leben retten könnten, sofern dem nicht unzumutbare Umstände entgegenstehen. Der Einrichtung von Schutzzonen durch Nato-Bodentruppen – wie während des Golfkriegs im Nordirak zugunsten der Kurden – stehen weder unüberwindbare Hindernisse noch unzumutbare Opfer entgegen. Daher muß der Krieg verschärft und das Bombardement Serbiens durch eine Teilinvasion in das Kosovo ergänzt werden. Mit jedem Tag, an dem dies nicht geschieht, wird die Nato – trotz bester Absichten – zum Schuldigen an den an Leib und Leben bedrohten Albanern.

Daran, daß das Bombardement früher oder später erfolgreich sein wird und die offizielle serbische Kriegsmaschinerie stehenbleiben wird, ist nicht zu zweifeln. Wohl aber daran, daß bis dahin die Geiseln der serbischen Paramilitärs noch am Leben sind. Auf diese Schwierigkeit hat auch die deutsche Bundesregierung keine Antwort. Vielmehr reagiert sie auf das Drama entweder – wie der Außenminister – mit großflächigen Zukunftsprojekten, etwa einer Balkankonferenz, oder – wie der Verteidigungsminister – mit verlegenem Herumdrucksen auf die Frage nach den Zehntausenden Flüchtlingen. Es steht zu befürchten, daß man mehr weiß, als der Öffentlichkeit mitgeteilt wird. Auf jeden Fall müssen allen, die jemals die Alliierten des Zweiten Weltkriegs des Nichtbombardements der Schienen nach Auschwitz wegen beschuldigt haben, die Worte im Mund verdorren. Die Luftaufklärung stand damals auf einem ungleich niedrigeren technischen Niveau als heute. Den Aufklärungssatelliten und –flugzeugen entgeht nichts. Das Schweigen der Verantwortlichen läßt das Schlimmste befürchten – für das Leben der Bedrohten und den moralischen Zustand des Westens. Die Nato hat diesen Krieg begonnen, ohne die Logik eines bevölkerungspolitischen Konflikts zu verstehen. Auch das hiesige Publikum scheint aller Vergangenheitsbewältigung zum Trotz nicht bereit, die Geschichte des verendenden zwanzigsten Jahrhunderts in dieser Hinsicht ernst zu nehmen. Vom Mord an den Armeniern durch die Jungtürken über sechs Millionen vernichteter europäischer Juden bis zu den 200.000 Toten des bosnischen Krieges zieht sich ein blutroter Faden durch die Geschichte: das Auslöschen politisch nicht genehmer Menschenmassen.

An der brutalen Nacht-und-Nebel-Evakuierung der Flüchtlinge durch Makedonien wird deutlich, worum es geht: Sowohl in den Augen der makedonischen Regierung als auch in der Perspektive des serbischen Diktators leben einfach zu viele Menschen albanischer Ethnizität in der Region, zudem gilt ihre Fruchtbarkeit als zu groß. Die kühl kalkulierte Antwort lautet Elimination: Abschiebung, Vertreibung, Deportation und – gegebenenfalls – Mord. Darauf verweist zunächst die serbische Praxis, den Vertriebenen alle Ausweise abzunehmen und sie somit ihrer bürgerlichen Identität zu berauben. Diese Maßnahme dient nicht nur der systematischen Unterbindung späterer Reparationsansprüche. Vielmehr ist anzunehmen, daß parallel dazu alle Personenstandsregister im Kosovo selbst zerstört wurden. Menschen aber, die nirgendwo registriert worden sind, können später auch nicht als tot oder vermißt gelten. Zudem hat das Verschleppen oder Umbringen albanischer Männer nicht nur den Zweck, die UÇK am Rekrutieren von Kämpfern zu hindern. Im Kosovo geht es darum, Umfang und Wachstum der albanischen Bevölkerung so zu dezimieren, daß künftig ein nominell jugoslawisches, von internationalen Truppen geschütztes Protektorat kein demographischer Instabilitätsfaktor sein wird. Heute umgebrachte Männer zeugen morgen keine Kinder. Indem die Nato die vergangene Politik Serbiens im Kosovo verharmlosend als „Apartheid“ oder „Menschenrechtsverletzung“ bezeichnete, verdeckte sie den Umstand, daß dort in Wahrheit lediglich eine zu allen Mitteln bereite Biopolitik exekutiert wurde und wird. Heute, da die Nato weiß, worum es geht, entzieht sie sich unter Hinweis auf die unbestreitbare Verantwortung des serbischen Diktators der moralischen Pflicht, dem Völkermord unmittelbar ein Ende zu setzen.

Derzeit zeichnet sich ein weit schlimmeres Debakel als seinerzeit im Golfkrieg ab, als sich die Schiiten im südlichen Irak im Vertrauen auf die Versprechen der USA erhoben und zu Tausenden von der irakischen Armee niedergemetzelt wurden. In einer Hinsicht ist dem sonst blauäugigen Pazifismus recht zu geben: Staaten führen in aller Regel nicht deshalb Kriege, weil sie moralischen Ansprüchen genügen, sondern deshalb, weil sie der Staatenwelt und ihren Grenzen eine bestimmte Form geben wollen. Das war im Zweiten Weltkrieg nicht anders. Manchmal freilich könnte auch der Krieg zwischen Staaten den Schwachen, den zu Unrecht Bedrohten und Bedrängten, nutzen, sogar wenn ursprünglich niemand ihnen zuliebe in den Krieg zieht.

Die Nato beteuert immer wieder, daß ein Einsatz von Bodentruppen nicht in Frage kommt. Die Behauptung, daß dazu ein monatelanger Truppenaufmarsch und der Einsatz von 200.000 Mann nötig sei, gilt nur für den Fall einer Offensive in ganz Jugoslawien, nicht für einen Korridor im Kosovo. Die Behauptung, daß nur eine Truppe, die vorher nicht gekämpft hat, später den Nichtkrieg sichern könne, überzeugt ebenfalls nicht. Diese Aufgabe könnten gegebenenfalls UN-Truppen aus nicht beteiligten Staaten übernehmen. Womöglich hält die Nato das Risiko, daß viele ihrer Soldaten bei einer solchen Operation fallen, für erheblich. Warum sagt sie das nicht offen? Fürchtet sie um die Legitimation zu Hause? Die Umfragen in den USA geben zu solchen Erwägungen jedenfalls keinen Anlaß.

Am Ende ist zu argwöhnen, daß es dem Bündnis gar nicht um das unmittelbare Durchsetzen humanitärer Ziele geht. Das ist verständlich: Tatsächlich würde eine Landoffensive die ohnehin nur noch als Fassade existierende Weltordnung der UNO endgültig zum Einsturz bringen. Indem der Westen aus einer letzten Rücksicht auf das von ihm mit Gründen demolierte Völkerrecht auf die Landoffensive verzichtet, treibt er jedoch die Verfolgten erst recht ihren Schindern in die Arme. In dieser Stunde gilt daher eine dramatische Alternative: sofortiger Waffenstillstand mit allen Unwägbarkeiten oder eine ebenso entschlossene wie begrenzte Invasion ins Kosovo. Micha Brumlik