Klare Linien an der kulturellen Front

■ Unter Frankreichs Intellektuellen tobt die Debatte um Krieg und Frieden. Enzensberger „mißbraucht“

Auf dem Schauplatz der europäischen Kultur finden seit dem Beginn des Nato-Krieges gegen Jugoslawien erstaunliche Auseinandersetzungen statt. Da rufen langgediente MenschenrechtsverteidigerInnen unter den PhilosophInnen nach mehr Bomben. Da lassen rechtsradikale und linksradikale Intellektuelle gemeinsam Petitionen gegen die Bombardements zirkulieren. Und jetzt greift auf diesem Nebenkriegsschauplatz auch noch der deutsche Essayist Hans-Magnus Enzensberger den französischen Innenminister Jean- Pierre Chevènement mit scharfer Munition an und bezichtigt ihn als einen „rechtslastigen Sozialisten“.

Chevènement, der während des Golf-Krieges von seinem damaligen Posten als Verteidigungsminister mit der Bemerkung zurücktrat: „Ein Minister hält den Mund oder er tritt zurück“, hat seine Kriegskritik dieses Mal anders vorgetragen: Er zitierte Enzensberger.

Bei einer wöchentlichen Sitzung des Regierungskabinetts hatte Innenminister Chevènement, Gründer und Chef der sozialistennahen „Bürgerbewegung“, Fotokopien aus dem Buch „Die große Wanderung“ aus der Tasche gezogen und seinen KollegInnen mit der Bemerkung überreicht: „Das faßt meine Gedanken zusammen“. Der Text, den die französischen Medien in Ausschnitten reproduzierten, handelt von „universalistischer Rhetorik“ und von der „Theologie der Menschenrechte“. Und unterscheidet zwischen „unterschiedlichen Graden von Verantwortung“ sowie zwischen „nah“ und „fern“.

Die französische Öffentlichkeit folgerte haarscharf, daß „der deutsche Philosoph Enzensberger“ ebenfalls gegen den Krieg auf dem Balkan sei. Weit gefehlt! Inzwischen korrigierte Enzensberger in einem Interview mit der Tageszeitung Le Monde diesen Eindruck vehement. Tatsächlich sei er dagegen, „überall und aus egal welchen Gründen zu intervenieren“. So habe er beispielsweise die US-Intervention in Somalia für falsch gehalten. Aber in Europa sei die Situation ganz anders. „Im Fall des Kosovo, habe ich den Eindruck, daß Europa nicht nur fähig, sondern sogar verpflichtet ist, zu intervenieren“, sagt Enzensberger.

Als einziges gutes Haar läßt Enzensberger an Chevènement, daß der Minister einen philosophischen Text gelesen hat, was ein deutscher Politiker nach Ansicht des Essayisten, „sicher nicht tun würde“. Aber er fühle sich von dem französischen Innenminister „arglistig mißbraucht“, sagte Enzensberger. Anschließend schoß er mit der Munition „rechtslastig“ zurück – sein vermutlich schwerstes Kaliber.

Mißbraucht fühlten sich auch in Frankreich eine Reihe von linken Intellektuellen, die einen Aufruf des „Collectif NON à la Guerre“ unterzeichnet hatten. Als sie sich in der Liste der ErstunterzeichnerInnen neben Intellektuellen aus dem rechtsradikalen Spektrum aber auch neben Leuten wie Peter Handke und französischen Militärs wiederfanden, zogen u.a. der Journalist Jean-Francois Kahn und der katholische Geistliche Abbé Pierre ihre Unterschriften zurück. Gestern schloß sich dafür der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn dem „Collectif NON à la Guerre“ an. Eine andere Initiative gegen den Krieg ist in Paris entschieden einheitlicher. Zu ihren Erstunterzeichnern gehören die linken Philosophen Pierre Bourdieu, Pierre Vidal-Nacquet und Daniel Bensaid. Sie verlangen den „sofortigen Stopp der Bombardements“ und lehnen die „Argumente, die versuchen, die Nato-Intervention zu legitimieren“ ab. In dem Essay „Ihre Logik und unsere“ schrieb Bensaid, daß die „Kriegslogik das Denken verdunkelt“ und zu dem Freund-Feind- Denken geführt hat, das nur zuläßt, „entweder mit Milošević zu sein oder mit der Nato“.

Eine sehr klare Linie haben auch die Intellektuellen auf der anderen Seite der kulturellen Fronten: Alain Finkielkraut und Bernard-Henri Lévy vom „Comité Kosovo“ ermunterten Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac zur Fortsetzung des Krieges und zeigen sich lediglich „erstaunt darüber“, daß die Nato erst so spät eingegriffen habe. Während der deutsche PEN-Club nach Auskunft seines Präsidenten Christoph Hein zu „verschiedene Auffassungen“ hat, um eine gemeinsame Erklärung zustande zu bringen, will das in Straßburg ansässige „Internationale Parlament der Schriftsteller“, dessen Präsident der Nigerianer Wole Soyinka ist, konkrete Hilfe leisten. Zahlreiche SchriftstellerInnen riefen dazu auf, ihren bedrohten kosovo-albanischen KollegInnen Asyl zu geben. Dorothea Hahn, Paris