Jeder soll und jeder liest hier einen Namen

■ Am Holocaust-Gedenktag wurde der 56.000 ermordeten Berliner Juden gedacht

Der kleine Vorplatz vor dem jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße ist voller Menschen. Die Gedenkwand, vor der sie stehen, zeigt die Namen der Vernichtungslager der Nationalsozialisten; davor ein Pult, darauf ein dikkes Buch.

Aal, Jutta, geborene Mohr, 16. 1. 1860 in Gachsheim, Bayern, gestorben am 1. 9. 1942 in Theresienstadt. Miryam Shomrat, israelische Gerneralkonsulin in Berlin, liest als erste aus dem Buch, beginnt die Namenslesung der 56.000 Berliner Juden, die während des Dritten Reiches ermordet wurden. Abraham, Adolf –Abraham, Albert –Abraham, Alice. Allein die Menge der Menschen mit dem Namen Abraham entspricht ungefähr der Anzahl der Anwesenden, denke ich, und plötzlich bekomme ich ein Gefühl für das Ausmaß der von den Nazis begangenen Verbrechen. Den anderen Menschen hier geht es nicht anders, betroffen stellen sie sich neben dem Pult an, jeder soll hier lesen, jeder wird hier lesen, die ganze Nacht durch und auch am nächsten Tag noch.

„Jeder Mensch hat einen Namen“ – unter diesem Motto und Titel eines Gedichts der israelischen Autorin Selda hat die jüdische Jugendorganisation B.B.Y.O. an diesem Montag abend die Berliner Bürgerinnen und Bürger eingeladen, sich an der Namenslesung zu beteiligen. „Wir haben diese aktive Form des Gedenkens gewählt, um das Erinnern nicht zu ritualisieren“, sagt der Organisator der Lesung, Ralf Melzer. Auch in diesem Jahr rechne man wieder mit der regen Teilnahme der Berlinerinnen und Berliner. „Prominenz ist zwar auch jedes Jahr präsent, aber im Grunde ist die Veranstaltung als Einladung an Leute wie du und ich zu verstehen.“

Schon zum vierten Mal findet die Namenslesung zum Jom HaSchoah, dem Holocaust-Gedenktag, statt. Dabei bemühen sich die Organisatoren, stets „einen historisch bedeutsamen Ort auszuwählen“, betont Ralf Melzer. So habe die Lesung 1998 in der Hamburger Straße stattgefunden, wo ein Gedenkstein daran erinnert, daß hier einst Juden zur Deportation gesammelt wurden. Dieses Jahr habe man sich wegen der neuen Gedenkwand im Vorhof für das Gemeindezentrum in der Fasanenstraße entschlossen.

Ader, Dina – Adler, Doris, geb. Schlopper – Adler, Elise. Wer war wohl Elise Adler? Vielleicht wohnte sie irgendwo hier in der Nähe, vielleicht war sie gerade verliebt, als man sie deportierte. Vielleicht war sie mir ganz ähnlich? Oder war sie wie das Mädchen, das gerade liest und kaum ans Pult reicht, das ganze Leben noch vor sich? Alexander, Bertha, geborene Katz Ein Jugendlicher, der eine Gebetsmütze aufhat, erzählt mir: „Eine konkrete Person zu nennen, die gelebt hat und ermordet worden ist, wirkt der Anonymität der unfaßbaren Zahlen entgegen. Daher ist es ein sehr bedrückendes Gefühl, wenn man die Namen vorliest.“ Amster, Berl – Amster, Dora, geborene Wachtel – Amster, Johanna Liesel. Eine Frau sagt, sie sei hier, weil sie Berlinerin ist und dies der richtige Weg, „den Opfern unseren Respekt und unsere Ehrfurcht zu er erweisen“.

Am nächsten Morgen: Es ist halb zehn, die Sonne scheint. Obwohl die ganze Nacht über gelesen wurde, ist das Buch in der Mitte geöffnet Lorenz, Helene, geborene Wollheim – Lorenz, Sara. Die Menge der Namen schockt. Es sind nicht so viele Menschen hier wie gestern abend, keine Umherstehenden mehr auf dem Platz, aber immer noch eine Schlange von acht Personen. Sie haben Taschen dabei, sind auf dem Weg zur Arbeit.

„Jonny hieß früher Joseph“, erklärt gerade eine Frau ihrer kleinen Tochter. „Der hat es noch geschafft nach Amerika.“ Sie kommt mir bekannt vor. Ob sie seit gestern abend hier sei, frage ich sie. „Nein, ich hatte Nachtschicht“, sagt sie mir und lächelt müde.

Dann stelle auch ich mich an. Das bin ich ihnen schuldig, Elise Adler und all den anderen.

Tobias Hinsch