Sechs Jahre Haft für Anwar

In Malaysia hat der Prozeß gegen den ehemaligen Vizepremierminister Anwar Ibrahim die politische Landschaft grundlegend verändert    ■ Aus Bangkok Jutta Lietsch

Ein malaysisches Gericht hat gestern den früheren Vizepremierminister Anwar Ibrahim zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Richter Augustine Paul sprach den Politiker in vier Fällen schuldig, sein Amt mißbraucht zu haben, um Vorwürfe sexueller Verfehlungen zu vertuschen. Eine Begründung wurde nicht bekannt. Anwar wurde zugleich für fünf Jahre von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Er sei Opfer „einer politischen Verschwörung der Regierung“, erklärte der 51jährige Anwar gestern im Gerichtssaal: „Das Urteil stinkt zum Himmel.“

Oppositionsführer Lim Kit Siang sagte, das scharfe Urteil habe Malaysia ein „blaues Auge geschlagen“. Der Richterspruch sei ein weiteres Beispiel dafür, wie „Malaysias Behörden die Gesetze und die staatlichen Institutionen für ihre politischen Zwecke mißbrauchen“, erklärte Mark Daley, Prozeßbeobachter von amnesty international.

Außerhalb des Gerichts kam es zu Krawallen: Mit Wasserwerfern, und Schlagstöcken versuchte die Polizei Demonstranten zu vertreiben, die durch die Kontrollen zum Gerichtsgebäude gelangt waren und „Anwar ist unschuldig“ und „Reformasi“ riefen. Mindestens zwei Personen, darunter der prominente Chef einer Koalition von Oppositionsparteien und Bürgerrechtsgruppen, Tian Chua, wurden festgenommen.

Das Gerichtsverfahren hat die politische Landschaft Malaysias verändert: Anwar galt bis zum vergangenen Sommer als künftiger Regierungschef und Kronprinz von Premier Mahathir Mohamad. Jetzt sind beide verfeindet. In der seit der Unabhängigkeit regierenden Umno-Partei gärt es. Die Nachfolge des kränkelnden Regierungschefs ist völlig unsicher.

Nachdem Mahathir seinen Stellvertreter Anfang September nach heftigem Streit über die Wirtschaftspolitik plötzlich aus dem Amt geworfen hatte, brachte Anwar Zehntausende zu Protesten auf die Straße und schwor, Korruption und Vetternwirtschaft zu bekämpfen. Wohl niemand hätte sich vorstellen können, daß der damalige Polizeichef Rahim Noor persönlich den am 21. September verhafteten Anwar in seiner Zelle zusammenschlagen würde.

Die regierungsnahen Zeitungen druckten drastische Berichte über angebliche sexuelle Ausschweifungen Anwars mit Männern und Frauen. Zeitweise trugen die Gerichtsdiener täglich eine Matraze mit angeblichen Spermaflecken Anwars in den Saal. Damit verärgerten die Ankläger sowohl die liberale Mittelschicht als auch konservative Muslime.

Durch den Prozeß erfuhren die BürgerInnen zum ersten Mal auch etwas über die Methoden, mit denen die Polizei Regierungskritiker traktiert. Mitten im Prozeß änderte der Staatsanwalt schließlich die Anklage und verhinderte so, daß sich Anwar gegen die Vorwürfe verteidigen konnte. Die Matratze verschwand, Zeugenaussagen zugunsten Anwars wurden aus dem Protokoll gestrichen, seine Verteidiger mit Haft bedroht. Über den unfairen Prozeß empörte Anwälte gingen auf die Straße.

Der Prozeß gegen Anwar brachte die Opposition des Vielvölkerstaates zusammen, die erstmals gemeinsam gegen die Regierung protestierte. Muslimische Malaieen, die einen islamischen Staat anstreben, saßen an einem Tisch mit Chinesen der liberalen Demokratischen Aktionspartei, die stets für Trennung von Politik und Religion plädieren.

Anwars Ehefrau Wan Azizah Wan Ismail gründete inzwischen die „Nationale Gerechtigkeitspartei“ als Sammlungsbewegung aller Unzufriedenen. Das harte Urteil gegen ihn könnte der Partei neue Mitglieder zutreiben.

Bald soll ein weiteres Verfahren gegen Anwar wegen Amtsmißbrauchs und homosexueller Beziehungen beginnen, die in Malaysia illegal sind. Drei seiner angeblichen Sexualpartner haben allerdings erklärt, sie hätten nie Beziehungen zu ihm gehabt und seien zu früheren Geständnisse gewaltsam gezwungen worden.