„Man muß den Spieltrieb anregen“

■ Rolf Liebermann, der heute 85. Geburtstag feiert, im Gespräch über Musik und Intendanzen

taz: Was trieb Sie, den Komponisten, damals dazu, die Hamburgische Staatsoper zu übernehmen?

Rolf Liebermann: Max Brauers (damaliger Hamburger Bürgermeister) Kraft. Brauer, dieser Barockfürst, der sagte: „Ich habe Sie dafür ausersehen und bin ganz sicher, daß Sie der Richtige sind. Sie müssen es einfach machen. Was soll dieser Quatsch beim NDR.“ Ich sagte ihm, daß das kein Quatsch sei. So behielt ich dann noch mehrere Jahre parallel zur Oper den NDR. Eigentlich wollte ich ja nicht zur Oper. Ich dachte, ein Sender ist kulturpolitisch wichtiger als ein Stadttheater.

Zeitgenössische Musik und die Oper: War das für Sie als Komponist nicht ein Widerspruch?

Nein, überhaupt nicht. Für mich war das Problem nur, wie bekommt man das, woran mir liegt, ins Opernrepertoire. Auch Max Brauer habe ich damals gesagt: Sie müssen wissen, daß Sie einen zeitgenössischen Komponisten engagieren und daß ich meine Pflicht gegenüber meinen Kollegen erfüllen werde. Nun hatte ich das große Glück, daß ich von Günther Rennert das typische Opernrepertoire geerbt hatte. Das bestand aus fünf Komponisten: Mozart, Verdi, Puccini, Strauss und Wagner. Ich konnte also gleich im ersten Jahr Henzes Prinz von Homburg hineinschmuggeln. Und das gab nicht mal Schwierigkeiten. Schließlich hatten wir damals acht Premieren im Jahr, davon waren zwei Uraufführungen, jeweils eine milde und eine aggressive, die sechs anderen waren mehr konventioneller Art.

Man kann mit verschiedenen Erziehungsmaßnahmen ein Publikum auch für neue Stücke gewinnen. Und das ist ja dann so weit gegangen, daß, als Everding 14 Jahre später kam, die Leute regelrecht nach neuen Opern verlangten.

Gab es auch Proteste aus den Reihen des angestammten Opernpublikums?

Oh ja, es gab Briefe. Rund 100 Protestbriefe.

Aber das war nicht der Tenor?

Nein. Gleich am Anfang, Henzes Prinzen von Homburg von 1960, in dem Libretto von Ingeborg Bachmann, da kannte das Publikum die Literatur, da ging der Kleist ja richtig an die Nieren. Daß dann noch etwas moderne Musik dazu kam, war dann nicht so schlimm.

Ein bißchen erschrocken waren die Zuschauer dann beim Staatstheater (1971) von Mauricio Kagel. Aber zwei Jahre später hatten die Leute eine riesige Freude mit diesem völlig atonalen Stück Kyldex I von Pierre Henry, weil sie mitspielen durften, mit Zeichen, wo sie Stücke anhalten oder schneller machen konnten. Man muß nur den Spieltrieb ein wenig anregen, dann läuft es schon. Und man muß den vierten Rang mobilisieren, daß die aufhören mit dem Buh-Quatsch. Man mußte mit ihnen einen Kaffee trinken und fragen: Warum habt Ihr jetzt gebuht? Meistens buhten sie nämlich aus ganz unbegreiflichen Gründen. Es ging gar nicht um die Musik, sondern um einen Sänger, den sie nicht mochten. Der persönliche Kontakt mit den Leuten ist das Wichtigste.

Hatten Sie Einfluß auf die Auftragswerke?

Das Wichtigste für mich war, während der ersten Gedanken zu einer Oper mit dem Komponisten ein Gespräch zu führen. Zum Beispiel: Ein Herr X will eine Oper schreiben. Kommt also zu mir und sagt, er habe eine fabelhafte Idee und braucht einen Auftrag. Das ist der und der Stoff. Ich sagte: Geben Sie mir Ihre Idealbesetzung. Den Fischer-Dieskau, die Schwarzkopf, was sie wollen. Dann werden wir versuchen, dieser Idealbesetzung zu entsprechen, so daß das Physische mit der Handlung in Einklang kommt. Diese Äußerlichkeiten müssen klar sein, bevor sie überhaupt anfangen zu komponieren.

Dann lasse ich sie wiederkommen und die Herrschaften anhören. Wenn das dann das ist, was sie wollen, werden wir die Leute engagieren. Sie müssen dann für die schreiben, sozusagen genau auf den Punkt schreiben. Das hat immer funktioniert.

Neben Ihren fünf Opern, dem Furioso für Orchester, haben Sie ja auch experimentelle Musik geschrieben... Eine Komposition für reale Maschinenklänge, das „Concert des Echanges“.

Ja, es ist übrigens die einzige Komposition, die ich zwischen 1957 und 1980 geschrieben habe. Es gab 1964 eine Schweizerische Landesausstellung in Lausanne. Die kamen 1962 zu mir und sagten, sie wollten ein Stück für ihren Pavillon. Der repräsentierte Eisenbahnen, Banken, Versicherungen, Verkehr usw. Ich sagte: Bitte kauft eine schöne Plastik bei Henry Moore, stellt die in die Mitte von dem Saal – und vergeßt die Musik, die hat da nichts zu suchen. Man drängte mich, doch ich sagte, das kann ich nicht. Mehr zum Trost sagte ich ihnen, als wir mein Büro verließen: Die einzige Möglichkeit, für Euch Musik zu machen, wäre, wenn man alle eure Maschinen ein Konzert machen ließe.

Dann sind die gegangen, und ich habe das vergessen. Sechs Monate später rief mich der Direktor der Schweizerischen Landesausstellung an und sagte mir, daß sie das besagte Stück haben wollen. Welches Stück? Ja, Ihr Maschinenstück. Dann habe ich den Schweizerischen Tonträgerverband in die Fabriken geschickt. Bitte, macht mir Aufnahmen von allen Maschinen, die es überhaupt gibt. Telex, Gabelstapler, Eisenbahnglocke und was es da so gibt. Mein Freund Hansjörg Pauli hat das dann auf Lochstreifen umgesetzt. Für das 3-Minuten-Stück habe ich sieben Monate gebraucht. Dann endlich wurden die 154 Maschinen in einer Zürcher Turnhalle aufgestellt und mit einem Computer verkabelt. Wir warteten. Nichts passierte. Da habe ich gelernt, daß Maschinen ein Eigenleben haben. Ich habe die Partitur unter Rücksichtnahme auf das Eigenleben der Maschinen noch einmal komponiert. Dann hat es endlich funktioniert. Als dann der Bundesrat kam, ging gar nichts. Wir stellten dann fest, daß Ratten die Kabelisolierung aufgefressen hatten.

Wie sind Sie bei Ihrer neuen Oper mit dem Medea-Stoff umgegangen?

Ich wußte zunächst nicht, wo Kolchis liegt. Ohne so eine Vorstellung wollte ich aber nicht komponieren. Der Zufall wollte es, daß ich in einer Zeitung eine Rede von Schewardnadse las. Dort sagte er, daß er, wenn er von seinem Balkon in das Tal des Ebrus hinunterschaue, diese wunderbaren Teeplantagen und Weinberge von Kolchis sehen würde. Jetzt wußte ich, wo Kolchis liegt, im tiefsten Kaukasus. Nun wollte ich diese Distanz herstellen, die für die Kolonisatoren, die Argonauten notwendig war, um von Griechenland nach Kolchis zu gelangen. Für diese Distanz gibt es die Möglichkeit einer ganz fremden Musik, die nichts mit europäischer Musik zu tun hat.

Ein weiterer Zufall brachte mich mit einem Gamelanorchester aus Bremen zusammen. Musikwissenschaftlich hat das nichts mit Georgien zu tun, doch ich wollte diese Distanz haben. Die spielen nun bis der Jason auftritt. Dann beginnt unsere Kolonialwelt, die Vergewaltigung, die Ermordung. Mir lag daran, zwischen dieser bukolischen, fröhlichen verspielten Welt einen anderen Ton zu finden. So entstand die Idee mit dem Gamelanorchester.

Ich bin ja für die Medea, daher der Titel Freispruch für Medea. Jason ist der Ursprung allen Übels und nicht sie. Ich mag den Schluß der Oper sehr. Da ist eine Auseinandersetzung zwischen Mann und Frau. Wo die sich auf die gemeinste Weise anpöbeln. Sie sehr cool im 2/4-Takt, er ganz aufgeregt im 12/8-Takt, bis er dann ins Feuer abgeht. Medea findet dann zu sich zurück. So ist Freispruch für Medea eine Oper über das Mann/Frau-Problem, weniger eine getreue Vertonung des Mythos.

Fragen: Sven Ahnert