Fußwallfahrt zur Schlachtpforte

■ Tausend Meter Bremen in seiner ganzen Lieblichkeit

Das Betörendste am ganzen Bahnhofsplatz ist das „Info-Center Bahnhofsplatz“, diese aufgetürmten Container, von deren Oberdeck wir die Sehenswürdigkeit der Erd- und Pflasterarbeiten erleben dürfen. Sowas hat sonst nur der Potsdamer Platz in Berlin, und der ist unterm Strich auch bloß eine Baustelle. „Schulklassen nur nach Anmeldung!“ Im Moment ist niemand da, aber man kann sich schon vorstellen, wie erhitzte Lehrer sonst herbeiströmen und ihre Kindermassen in den Ausguck hinaufführen, damit sie auch mal Tramgleise von oben sehen können. Bei klarer Witterung reicht der Blick bis zu Würstchen-Brüggesch (“Schaschlik, Bratwurst, Frikadell“).

Erst bin ich ja auf der falschen Seite aus dem Bahnhof hinausgelaufen. Fünf Jahre weg, unter fremden Leuten, da findet man nicht mehr gleich in den Stall. Aber Potz tausend, hinterm Bahnhof, gleich neben der Stadthalle, steht jetzt ein supermodernes Designerspritzenhaus. Jeden Moment, meint man, müßten die Rolltore emporsurren und Feuerwehrmänner in funkelnd roten Cabrios mit offenem Verdeck herausflitzen. In Wirklichkeit ist das irgendwas mit Messe. Aber immerhin, dachte ich, meine kleine Stadt hat sich direkt herausgemopst.

In der Zitty dann, Herrjegerl, die gestreiften Buden der Bürgerparktombola wie eh und je. Aber alles ist still. Das ist nicht wahr. Wo sind die Losverkäufer mit ihrem bestialischen Gebrüll? Wo ist Friedrich „Hundertmarkschein“ Rebers? Kümmert er sich nicht mehr um sein Lebenswerk? Hat man ihn schon auf die Ewige Sparkasse überwiesen? Niemals hätte Rebers geduldet, daß auch nur eine Mark uneingenommen bleibt. Aber nein, es war nur eine Pause aus Versehen, und schon hebt es wieder an, das Gebrüll der Äonen. Noch kein Tourist, der es vernommen hat, ist ein zweites Mal nach Bremen gekommen, aber zuvor hat er unfehlbar ein Los gekauft und sein Teil beigetragen zur Unsterblichkeit der Tombola.

Ein anderer aber ist tatsächlich verstummt, der Unentwegte selber, Martin Globisch, Absackerberichterstatter des Weser-Report. Die neuen Machthaber, heißt es, haben ihm gekündigt. Warum tat man das dem lieblichen Manne? Er war der beste, und er schrieb, wo immer er seine Abende verhockte, die Wahrheit auf.

Meine kleine Nichte Julia geht auf eine Montessori-Schule, wo man sie ermutigt, einfach loszuschreiben, wie sie sich's denkt, auch wenn ihr die Buchstaben noch nicht ganz parieren. Das geht erstaunlich gut, aber nach ein paar Wörtern schwindet die Gestaltungskraft, die Buchstaben purzeln, der Sinn wankt, die Dichtung beginnt.

So kindlich rein schrieb auch der Globisch, solang es ihm vergönnt war. Weit schaffte er es nie, dann purzelten die Wörter und die Satzteile, und der Sprachgeist selber übernahm das Regiment. Abends kam dann der Chefredakteur, und ehe er den Globisch ins Bett steckte, mußte der noch schnell alle herumliegenden Wörter in die Globischklammer räumen: Weiter vergnügten sich der frühere Vegesacker Großbäcker Richard Voßmann und seine leidenschaftliche Datscha-Betreiberin (liegt im Blockland) Emilie.

Solche Eingebungen, nie sollen sie vergessen sein, danken wir dem Beispiellosen. Globisch ist jetzt, wie gemunkelt wird, Teilhaber einer Agentur (“Schwerpunkt Fußball und Show-Business“) und demnach schon fast wieder auf dem aufsteigenden Ast.

Letzte Etappe Erste Schlachtpforte. Die alte, einzige Firma, Heimatzeitung aller Gerechten, hat zum Tag der Veteranen geladen. Auf dem Platz davor neue Kunst im öffentlichen Raum: ein Mann, dem eine Möve auf die Schulter macht, aber er nimmt es ihr nicht übel. Das Denkmal für alles, was ist, wie es ist. Und solange die Weser durch Bremen fließt, wird sich auch ein Künstler finden, der das gleich nebenan am Ufer durch die Macht seiner Kunst bezeugt: mit einem gußeisernen – Anker.

Ins Oberstübchen des Medienhauses zur Morgenkonferenz. Niemand hat etwas vorbereitet, keiner weiß ein Thema, Termine finden nicht statt oder sind schon vorbei. Aber wenig später, nach den immer wieder lustigen Stunden des Schwitzens und Dampfens, ist wieder eine Nummer im Sack, und unfehlbar hört man als erstes den Altredakteur Grabler aus seinem Winkel quäken: „Feeertig, aaabputzen!“ Strenggenommen kann man diese Stadt fast nicht verlassen.

Manfred Dworschak, Kulturredakteur 1990-95