„Basler ist die Zoä Jenny des Fußballs“

■ Helmut Böttiger und Rainer Moritz sind Fußballfans und Fußballautoren. Beide hassen den FC Bayern. Aber mehr eint sie nicht. Ein Streitgespräch über Fußballgeschichte, Fußballästhetik und – Literatur

taz : Borussia Mönchengladbach steht vor dem Untergang. Ist das ein Symbol? Und wenn ja, wofür?

Böttiger: Es wurde Zeit, daß die absteigen. Aber ein Symbol für den Zustand des deutschen Fußballs ist das nicht – eher ein Problem des Vereins.

Moritz: Gladbach bekommt jetzt sein verdientes Ende. Das symbolische Gezeter hat mit dem Mythos der siebziger Jahre, nichts aber mit der Realität der letzten zehn Jahre zu tun.

Die siebziger Jahre standen für rebellischen Kreativfußball, die Achtziger für schmucklosen Angestelltenkick. Welches Label paßt auf den Fußball von heute?

Böttiger: Er ist langweilig, überschaubar, berechenbar, es fehlt der Spielwitz.

Moritz: Es ist die perfektionierte Langeweile. Aber warum soll das ein deutsches Phänomen sein? Und die frühen Prognosen von Böttiger ...

Böttiger: ... haben Sie's endlich mal richtig gelesen?

Moritz: Es lag zu Hause im Eisschrank. Und was las ich: Der Fußball ist zu Ende und die neue Leitsportart sei Tennis! Sie haben ja auch lange auf Kamerun gesetzt, auf Hansa Rostock und den SC Freiburg. Die Rettung kommt von den Rändern, hieß es damals in Anlehnung an Marcuse bei Ihnen. Doch die Ränder sind inzwischen ziemlich ausgefranst.

Böttiger: Nein nein, die Ränder sehen Sie in Frankreich und Holland und da, wo die ihre Spieler herkriegen. Kamerun ist eine Metapher gewesen dafür, welche Spieler heute im Weltfußball dominant sind – zumBeispiel Edgar Davids. Und das mit SC Freiburg halte ich selbstverständlich aufrecht.

Moritz: Jeder, der keinen Club hat, ist für den SC Freiburg. Dieser Verein ist die größte Projektionsfläche der deutschen Kulturszene in den letzten zehn Jahren, mehr nicht.

Böttiger: So können Sie mir nicht kommen: Ich stand schon 1980, als der SC von der Amateuroberliga in die zweite Liga aufgestiegen ist, mit 1.000 anderen Versprengten auf den Stehplatzrängen des Dreisamstadions. Ich habe da Mannschaften erlitten wie Union Solingen oder TuS Schloß Neuhaus.

Gibt es die Parallelität zwischen fußballerischer und politischer Entwicklung in Deutschland heute noch?

Böttiger: Ich war nie ein großer Freund dieser Paarungen Bundeskanzler/Bundestrainer. Obwohl: An bestimmten Punkten, etwa bei der WM 54, gab es tatsächlich interessante Übereinstimmungen zwischen Fußball und Politik. Und Anfang der siebziger Jahre spiegelten FC Bayern München und Mönchengladbach sehr schön den gesellschaftlichen Zustand wider.

Und heute?

Böttiger: Da spiegelt sich höchstens einiges von der Lähmung der Gesellschaft im Fußball wider.

Moritz: Eine kühne Gleichsetzung – auch wenn man schon gewisse Ähnlichkeiten in den Erscheinungen Erich Ribbeck und Gerhard Schröder erkennen kann, beim Verkaufen von Leere etwa. Hauptberuflich haben Sie beide mit Literatur zu tun: Wer war denn das literarische Pendant zu Günter Netzer, und wer ist der Mario Basler der Gegenwartsliteratur?

Böttiger: Vielleicht kann man Eckhard Henscheid und Bernd Hölzenbein vergleichen. Aber Netzer?

Moritz: Basler steht für einen Typus, den ich in der Literatur immer häufiger antreffe. Ein Mann, der ein gewisses Spiel mit den Dingen betreibt – und das allein schon für die richtige Sache hält.

Böttiger: Der hat so was Rotziges, aber zur richtigen Provokation reicht es nicht. Er steht für den Showwert des Fußballs.

Moritz: Er gehört in die immer größer werdende Rubrik „Ewige Talente“, und die haben wir in der Literatur ja auch. Basler ist vielleicht die Zoä Jenny des deutschen Fußballs.

Böttiger: Oder in diesem Frühjahr Christoph Peters und davor Judith Hermann.

Und Benjamin Lebert als Lars Ricken der Gegenwartsliteratur?

Moritz und Böttiger: Nein, Sebastian Deisler von Mönchengladbach!

Moritz: Herr Böttiger, für Sie sind doch die Andy Möllers und Thomas Helmers der Gegenwart genauso wie die Thomas Hettches und Ulrich Woelks der Gegenwart: geschichtslos, ohne Konturen, ohne Erfahrung.

Böttiger: Das ist ein unzulässiger Zusammenschluß eines meiner Essays über Gegenwartsliteratur und eines Textes über Fußball. Ich würde Möller nie mit Hettche vergleichen.

Moritz: Aber doch den Typus! Zugespitzt heißt das doch, Ingo Schulze ist der SC Freiburg der Literatur.

Herr Böttiger, bei Lektüre Ihrer Bücher entsteht der Eindruck, seit Netzers Abgang nach Madrid wird kein guter Fußball mehr gespielt hierzulande.

Böttiger: Nein. In meiner Fußballkulturgeschichte handeln ungefähr zehn von 220 Seiten von Netzer. Es ist danach schon einiges passiert: das legendäre 4:0 des 1. FC Nürnberg gegen Bayern 1987 etwa und das alles überstrahlende 5:1 des SC Freiburg gegen Bayern.

Moritz: Aber Ihre These, daß der deutsche Fuball nie mehr so gut war wie 1972, die stimmt doch noch, oder?

Böttiger: Für die Nationalmannschaft gilt das. Danach kam doch nur noch ein Dribbling von Lothar Matthäus 1990 gegen Jugoslawien, ein paar Pässe von Bernd Schuster 1980, das war's schon.

Wo wird denn in Deutschland noch attraktiver Fußball gespielt?

Böttiger: Das, was Volker Finke 1992/93 in Freiburg veranstaltet hat, war für Deutschland schon relativ avanciert. Da hat das Aufbrechen des dumpfen deutschen Systems stattgefunden. Ralf Rangnick hat das jetzt mit dem SSV Ulm noch einmal probiert. Freiburg ist für mich noch immer ein Pluspunkt.

Moritz: Sie sprechen vom vergangenen Freiburg, doch wohl nicht von der jetzigen Mannschaft?

Böttiger: Warten Sie die nächste Saison ab. Wenn die Georgier sich erst mal eingewöhnt haben, dann gibt's einen Uefa-Cup-Platz.

Moritz: Das meinen Sie ernst?

Böttiger: Können wir wetten.

Moritz: Okay. Wir müssen essen gehen, einen ganzen Abend lang.

Böttiger: Das geht nicht gut.

Ist Erfolg für Fußballästheten ein Kriterium?

Moritz: Da soll im Fuball vereinigt werden, was nicht zu vereinen ist. Niemand ist froh, wenn seine Mannschaft immer glänzend spielt – und dann stets 3:4 verliert. Das ist auf Dauer nicht das Glück des Fans. Manchmal ist auch ein erwürgtes 1:0 etwas sehr Schönes.

Böttiger: Aber zum Prinzip sollte man das nicht machen. Wenn das herausgebolzte 1:0 das Maß der Dinge ist, dann landen Sie schnell in der Sackgasse – siehe Nationalelf.

Herr Moritz, Sie sind Fan und sogar Mitglied des TSV 1860 München. Und das trotz Werner Lorant. Wie geht das?

Moritz: Wenn Sie Wildmoser gesagt hätten, um mein Leid zu benennen, dann hätte ich zugestimmt. Aber Lorant halte ich für den idealen Trainer der Löwen.

Böttiger: Ich wäre bei diesem Trainer wirklich nicht gern Fan von 1860. Und deren Spielweise paßt mir nicht. Gegen solche Mannschaften sieht Freiburg immer am schlechtesten aus. Die halten einfach bloß drauf.

Moritz: Das ist eine üble Unterstellung der Spielweise von 1860, denken Sie an Virtuosen wie Heldt, wie Schroth ...

Vielen Dank für das Gespräch.

Moritz: ... oder Cizek. Sie haben die Löwen lange nicht mehr gesehen!

Böttiger: Seit jeher steht für 1860 das Prinzip Otto Luttrop.

Moritz: Der spielte 1966.

Böttiger: Luttrop ist die Urform – „Atom-Otto“!

Moritz: Peter Grosser! Sagt Ihnen Peter Grosser noch was, einer der größten Ballkünstler des deutschen Fußballs ...

Böttiger: Als Trainer von Unterhaching hat er gewisse Verdienste.

Moritz: Sie haben Grosser nie spielen gesehen, Herr Böttiger ...

(taz packt schon mal die Sachen ein)

Böttiger: Oh doch, ich war im Stadion an der Grünwalder Straße – wer weiß, was Sie damals gemacht haben ...

Moritz: ... wir sind doch fast ein Jahrgang. Ich war dort, und Sie tummelten sich wahrscheinlich beim FC Creglingen ...

Böttiger: Ja, aber als Spieler und nicht als Schiedsrichter, was viel über Ihren Charakter aussagt.

Wiedersehen, die Herren.

Moritz: Ich war in der D-Jugend des VfR Heilbronn – das war ein großer Verein, immerhin mal zweite Liga in den siebziger Jahren.

Böttiger: Stimmt, da habe ich mal ein 4:1 gegen Spielvereinigung Bayreuth gesehen.

Moritz: Da gab's große Spiele. Die haben gegen Helmut Haller noch gewonnen, das war ganz große Kunst.

Böttiger: Ja, Heilbronn ist auch ein Kapitel für sich.

(taz schließt leise die Tür)

Das Gespräch moderierte Axel Kintzinger