Im Zweifelsfalle geradeaus

Ein Botschafter der Form: Der 30jährige Philip Tiedemann kommt mit Claus Peymann ans Berliner Ensemble. Mit musikalisch komponierten Inszenierungen hat er sich ein Markenzeichen erarbeitet  ■   Von Cornelia Niedermeier

Die Wiener Presse feierte ihn unlängst als Kronprinzen. Nicht ganz zu Unrecht. Philip Tiedemann ist in immerhin dreizehn Jahren Burgtheater-Geschichte der erste der Peymannschen Regieassistenten, dem es gelang, nicht nur die obligatorische Kleininszenierung für Zöglinge zum umjubelten Erfolg zu führen, sondern auch danach eine Hand auf dem Regiepult zu halten. Viereinhalb Inszenierungen sind es mittlerweile, die er in der ehrwürdigen Trutz-Burg am Wiener Ring herausbrachte (-einhalb deshalb, weil er letzten Sommer einsprang, als Regisseur Michael Kreihsl während der Proben zur Uraufführung des Singspiels „Bibapoh“ von Franzobel das Handtuch schmiß). Und im Herbst wird er mit Claus Peymann an das Berliner Ensemble übersiedeln.

Das überrascht, hielt es Peymann in Sachen Nachwuchsförderung bisher eher mit Altkanzler Kohl: Nur ein schwacher Nachwuchs ist ein guter Nachwuchs. Der König thronte gern allein im Intendantenzimmer. Ob Autoren – Peter Handke gehört noch heute zu den von Peymann bevorzugten Nachwuchsschreibern – oder Regisseure: Jugend sah der Intendant am liebsten im Spiegel. Die zu erwartende Konkurrenzsituation in Berlin wird ihren Beitrag geleistet haben zum plötzlichen Sinneswandel des Patriarchen.

In Berlin soll der 1969 in Gießen geborene Philip Tiedemann „Spielleiter“ werden, ein Titel, den er übrigens nicht gern hört, „weil das ein so schrecklich nationalsozialistischer Begriff ist. Und im Grunde ist es auch sinnlos, denn die Auseinandersetzung am Theater wird um die Sache und Tag für Tag geführt. Da gilt weder ein Titel noch irgendwelche vertraglichen Zusicherungen.“ Doch jahrelange Assistentenpraxis und ein ausgeprägter Hang zur Unbeirrbarkeit lassen ihn der Situation gelassen entgegensehen.

Gelegenheit, sich in der Kunst der Diplomatie zu üben, hatte er als Regieassistent ohnehin reichlich. Im Gegensatz zu den meisten Regisseuren seiner Generation führte Tiedemanns Weg nämlich ohne Regieausbildung direkt in die Praxis des Theaters. Von der Begeisterung fürs Theatermachen schon am Gymnasium in Freiburg infiziert, ging er nach Zivildienstjahren in München ans Freiburger Theater, wo gerade Friedrich Schirmer seine Intendanz antrat. Von diesem Moment an läßt sich sein geradliniges Voranschreiten in regelmäßigen Zweijahres-Etappen festhalten. Philip Tiedemann ist kein Tänzer, kein Springer, keine Luftnatur. Solides Handwerk ist die Grundlage seiner Arbeit, seine bevorzugte Richtung geradeaus. Unaufhaltsam Schritt für Schritt voran liest sich, rückblickend, sein Weg von Freiburg nach Berlin. Dem entspricht Tiedemanns Art, auch im Gespräch. Schnörkellos, klar, direkt.

Nach zwei Jahren Regieassistenz bei Schirmer und einem kurzzeitigen Liebäugeln mit der Dramaturgie (der Schlingensief-Mitstreiter Carl Hegemann war damals Chefdramaturg in Freiburg) wechselte Philip Tiedemann für zwei Jahre nach Basel, bevor er im Herbst 1995 am Burgtheater eintraf. Wiederum zwei Jahre später, im Herbst 1997, legte er die erste eigene Arbeit vor – „Fumms Bö Wö Tää Zää UU & Ribble Bobble Pimlico“ nach Schwitters Ursonate. Ende diesen Jahres schließlich wird er am BE beginnen.

In seltener Bestimmtheit zeugte Tiedemanns erste Regiearbeit denn auch von einem klaren Stilwillen. Der Vergleich mit den Inszenierungen seines Mentors Peymann betont nicht nur seine ästhetische Unbeirrbarkeit. Er macht darüber hinaus auch deutlich, warum Tiedemann so gut neben Peymann bestehen kann: Beider Arbeitsweise unterscheidet sich diametral: Claus Peymann, der 68er, agitiert auf der Bühne noch heute gern ein bißchen, politische Botschaften schickt er direkt über den Text von der Rampe herab ins Publikum.

Ganz anders Tiedemann. Er ist Formalist.

Irgendwann im Gespräch fällt der Satz, der das Credo umreißt: „Form trägt die Mitteilung in sich, das ist das Entscheidende.“ Kaum ein Regisseur seiner Generation arbeitet so formstreng wie Philip Tiedemann. Keiner so musikalisch. Alle seine Arbeiten erinnern an Kammermusik. Optisch-akustische Sonaten, Quartette, Quintette, komponiert von der ersten bis zur letzten Minute. Lange bevor die Probenphase mit den Schauspielern beginnt, feilt er in wochenlanger Vorarbeit an seinem Inszenierungskonzept.

Keine seiner Inszenierungen währte bisher auch länger als neunzig Minuten, „Fumms Bö Wö“ nur eine knappe Stunde. „Epische Breite will ich gar nicht haben. Ich habe den Anspruch, daß jede Minute des Abends nicht nur gearbeitet, sondern hundertprozentig gefüllt ist.“ Daß Konzentration, wie Tiedemann sie meint (nicht zufällig zitiert er Woody Allen, der 88 Minuten als optimale Filmlänge postulierte) durchaus lustvoll sein soll, zeigte schon „Fumms Bö Wö“.

Vier Damen und Herren saßen da im weißschwarzen Orchestermusiker-Outfit auf ihren Samtstühlchen und artikulierten, unterbrochen von Zigarettenpausen, todernst die dadaistische Urlautsonate in vier Sätzen. „Rinnzekete bee bee“. Ein Ohrwurm und Publikumshit mit einfachen szenischen Mitteln, den es mittlerweile auch auf CD gibt. Selbst beim Hören überträgt sich die pure Sprechlust, die diesem sinnbefreiten chorischen Quartett zugrunde liegt.

Tiedemanns erste Inszenierung war der Auftakt zu einer Folge von Arbeiten, in denen er das formale Thema auffallend konsequent weiterentwickelte. Handkes „Publikumsbeschimpfung“ wurde in seiner Bearbeitung zu einem weiteren Sprechchor für vier Stimmen, präludiert vom rhythmischen Heben und Senken der Lichtbrücken, die den Ton gewissermaßen optisch vorgaben. Und zuletzt verwandelte Tiedemann Handkes „Kaspar“, ein schon etwas abgestandenes didaktisches Lehrstück von der geistigen Indoktrinierung durch die Gesellschaft, in ein streng rhythmisiertes Sprachquintett. Nicht was, sondern wie es gesagt wird, zählt hier – schließlich seien auch in Handkes Text nicht die einzelnen erzieherischen Sätze wichtig, sondern das Moment des Formens selbst.

Nicht jedem mag sich diese Botschaft entschlüsselt haben. Die unglaubliche Präzision jedoch, Tiedemanns Liebe zum bestmöglichen Einsatz aller Mittel, ist auch in diesem Falle unbestreitbar.

Der Raum spielt bei Philip Tiedemann stets eine wichtige Rolle. Er wird erhöht zum vollwertigen Darsteller. Vorhang, Scheinwerfer, Lichtbrücken sind weniger Werkzeuge als Variationen des Themas. Tiedemanns Theater erzählt immer auch vom Theater selbst. Vom Spiel mit den Elementarteilchen aus dem Zauberkasten der Bühnenkunst.

Die formale Schönheit von Philip Tiedemanns Inszenierungen ist bestechend. Gleichzeitig liegt in dieser Brillanz auch die Gefährdung. Die mechanische Reibungslosigkeit, mit der hier ein Rädchen in das andere greift, läßt oft keinen Platz für Widerhaken. Das Bewußtsein gleitet wohlwollend an der Außenfront entlang, ohne Fragen zu stellen.

Doch diese Einwände muß jede der kommenden Inszenierungen für sich beantworten. Faszinierend ist die Eigenständigkeit seines Ansatzes, fernab aller derzeit gängigen Schulen und Moden, allemal. Gewissermaßen als Einstimmung auf Künftiges wird während des Berliner Theatertreffens im Mai seine Inszenierung von Thomas Bernhards Claus-Peymann-Dramoletten „Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“ zu sehen sein. Eine liebevoll spöttelnde Hommage an den Königvater – und Tiedemanns konventionellste Regiearbeit.

Im Herbst dann wird er mit einer weiteren Bernhard-Arbeit seinen endgültigen Berlin-Einstand feiern: „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ soll nach der Umbaupause Ende November auf der Bühne des frisch renovierten Berliner Ensembles zu sehen sein. An Palastrevolution denkt der Kronprinz derzeit jedenfalls noch nicht. Möglichen Konfrontationen mit Peymann bereiten ihm keine schlaflosen Nächte. „Auseinandersetzungen gibt es immer. Und ich persönlich führe sie lieber mit ihm selbst, als an irgendeinem Theater XY mit einem Epigonen.“

Auch einer möglichen Polarisierung der neuen Berliner Theaterjugend – Tiedemann am BE versus Thomas Ostermeier und Sasha Waltz an der Schaubühne und Christina Paulhofer und Stefan Ottenian bei den Kammerspielen des Deutschen Theaters – entlockt ihm lediglich verständnisloses Kopfschütteln. „Berlin ist wieder so ein Ding. Da wird jetzt aufgerechnet. Ostermeier hier, Tiedemann dort. Wenn du Theater machst, willst du einen Punkt machen gegenüber der Fernsehkultur und vielleicht dem Musical, aber doch nicht gegen andere Theater. Man freut sich doch, wenn auf einem gewissen Niveau verschiedene Ansichten vertreten werden.“ Eine stilechte Position. Schließlich entspricht eine solche Mehrstimmigkeit ganz dem chorischen Prinzip des Philip Tiedemann. Rein formal betrachtet natürlich.