Alles Scheinkriminelle

■ Michael Roes hat mit „Der Coup der Berdache“ einen Roman über das Romanschreiben und sich auflösende Identitäten geschrieben

Die deutsche Literatur soll wieder schön werden. Das ist die Vision von Arnulf Conradi, dem Verleger des Berlin-Verlages. Und schön, das heißt für ihn vor allem: einfach, klar und „mit großen Gefühlen“. Nicht so verrätselt und kompliziert, wie die deutschen Konstruktionsromane nach der Theorierevolution von 68 gewesen wären. In Amerika sei das anders: „Da fliegen die Erzählperspektiven durcheinander, manchmal auch die Zeiten, völlig egal. Hauptsache, die Geschichte ist spannend“, so der Verleger in einem Interview.

Nun steht Conradi zum Glück einem Verlag vor und kann sich also ein schönes, leichtes Gefühlsliteraturprogramm zusammenstellen. Doch mitunter rutscht ihm da so ein deutscher Denker ins Programm. Jetzt gerade neu erstanden: Michael Roes und sein neues Buch „Der Coup der Berdache“. Roes repräsentiert ziemlich genau das Gegenteil von Conradis Geschichtenideal. Er gilt als „schwieriger Autor“, seine Bücher waren bis zum großen Erfolg seines letzten Romans „Leeres Viertel“ nahezu unverkäuflich.

Bei Conradi geriet er ins Programm, weil sein Lektor der ersten Stunde, Matthias Gatza, dem Michael Roes mit seinen Frühwerken den eigenen Verlag ruiniert hatte, zum Berlin-Verlag gewechselt war. Da hat er seinen Lieblingsautor gleich mitgebracht.

Nein, nicht um auch diesen Verlag zu ruinieren. Michael Roes macht seit dem „Leeren Viertel“, das als Abenteuerroman konzipiert war, Zugeständnisse an die Leserschaft. „Der Coup der Berdache“ ist formal ein Kriminalroman, mit einer verbrecherischen Tat als Ausgangspunkt und einer vielschichtigen Tätersuche, die die weitere Geschichte strukturiert. Daß es deshalb gleich ein „atemberaubender Thriller“ geworden wäre, wie die Verlagswerbung verspricht, kann man zwar noch nicht behaupten, aber es ist spannend zu lesen, immerhin.

Am Anfang steht eine Skalpierung. Eine schlechte Skalpierung. Dem Opfer wurde „aus mangelnder Routine das ganze Gesicht mit fortgerissen“, statt einfach nur den Haarschopf zu rauben. In diesem „Gesicht-Fortreißen“, dem Ausgangspunkt der Kriminalgeschichte, liegt auch der Schlüssel zur zweiten Ebene des Buches, zu dem, was Roes eigentlich sagen will: Das Gesicht ist fort – was bleibt uns als Wir, als Ich? „Der Coup der Berdache“ kreist um Fragen der Identität, um Kultur und Geschlecht.

Die drei Personen, die sich auf die Suche nach dem Skalpierer machen, fühlen sich in ihrer Haut nicht wohl. Sie sind alle drei Männer und wären gerne Frauen bzw. sind es auf indianisch wundersame Weise schon, sie gehören unterschiedlichen Kulturen an und leiden unter dieser Festlegung und scheinbar unlösbaren Verbindung, die sie mit ihrer Herkunft verbindet. Der dunkelhäutige Polizeipsychologe Voelcker schwärmt von der indianischen Kultur Bayous, von Brüderlichkeit, Gastfreundschaft und Ursprünglichkeit, während die Ethnologin Bayou bedauert, daß sich ihr Volk nicht „in den großen Tiegel der amerikanischen Nation“ einschmilzt. Indianische Identität sei nur noch im Klischee zu bewahren, klagt sie. Und die weiße Drag Queen Elektra sitzt ohnehin zwischen allen Stühlen.

Solcherlei Reflexionen über die eigene Identität sollen mit der Zeit zum Täter, dem dilettantischen Skalpierer und Gesichtfortreißer führen, doch die Geschichte will es anders und verläuft weit fort vom Ausgangspunkt. Auf unterschiedlichen Zeitebenen finden die drei Sucher in jeweils eigenen Erzählabschnitten, die erst im nachhinein in einen Zusammenhang zu bringen sind, ganz andere Dinge, als die, die sie suchen. Auf ihren Recherchen durch die Stadt New Leyden (es ist New York, nur heißt es anders) ergeben sich Verstrickungen, die ihren Ausgangspunkt tief in der US-amerikanischen Geschichte haben und nur noch sehr vage mit dem Krimiplot zusammenhängen.

Das ist ein Problem des Romans: Michael Roes hat die Form des Krimis nicht nur deshalb gewählt, weil sich in diesem Genre das Problem der Identitäten und das Vorspiegeln falscher Selbstbeschreibungen von selbst ergeben. Er will auch den traditionellen Krimileser in seine Lehrwelt entführen: „Das ist doch das Tolle!“ erzählte Roes kürzlich bei einem Gespräch in seinem Charlottenburger Stammcafé. „Da sind Leute, die beschäftigen sich dann plötzlich mit Wittgenstein und Sprachspielen – mit Dingen, mit denen sie sich nicht im Traum beschäftigen würden, wenn sie als Suhrkamp-Wissenschaftsband irgendwo in der Buchhandlung stehen.“ Man müsse eben durchhalten, „wenn es zwischendurch etwas papieren wird und um Theorie geht“; dafür liefere er ja dann aber auch das „Lesefutter“ drumherum. Michael Roes nennt das seinen „didaktischen Trick“.

Außerdem – Herr Conradi, aufgemerkt! – geht es Roes darum, „zu zeigen, wie so ein Roman funktioniert“, „die Theorien und die Konstruktion deutlich zu machen, sie mitzuthematisieren“ und immer wieder darauf hinzuweisen, „daß das etwas Konstruiertes ist, was man da liest“. Tatsächlich kann man den „Coup“ zwischendurch immer wieder als Theoriegeschichte lesen. Oder als Diskursbuch zu Genderfragen und Identitätsdebatten. Die drei Berichterstatter spielen auf ihrem Weg, den Täter zu demaskieren, die verschiedensten Positionen zu Fragen der menschlichen Natur, zu Rollenzuschreibungen und dem Geschlecht als sozialem Konstrukt durch. Die Positionen sind vielfach gegensätzlich, nähern sich an, stoßen sich ab. Es werden Diskursmöglichkeiten durchgespielt, ohne daß der Autor erkennbar eine Position favorisiert.

Und das ist gut so. Der Roman wird nicht als Botschaftsvehikel mißbraucht, sondern als Diskursverdeutlicher genutzt. „Das Denken in Gegensätzen schärft das Verständnis für die Widersprüchlichkeit dessen, was wir Identität nennen“, heißt es an einer Stelle des Romans. So viel zur Metaebene des „Coups“.

Daß jedoch der Ausgangspunkt des Kriminalfalls am Ende einfach fallengelassen wird und als „Geheimnis“ zurückbleibt, verzeiht der Krimifan Roes so leicht wohl nicht. Es bleibt der Verdacht, daß Roes in Wirklichkeit ja auch gar nicht für diesen geschrieben hat. Für den Rätsel-, Theorie- und Geheimnisfreund ist der „Coup der Berdache“ ein Gewinn, für den Krimileser kaum. Volker Weidermann

Michael Roes: „Der Coup der Berdache“. Berlin-Verlag 1999, 496 Seiten, 44 DM