Das Bedürfnis nach Reminiszenz

■ Peter Conradi, Präsident der Bundesarchitektenkammer, hat Zweifel, ob der neue Plenarsaal im Reichstagsgebäude für die politische Debatte genauso geeignet ist wie sein Vorgänger in Bonn

Mit dem Umzug des Deutschen Bundestages in das Berliner Reichstagsgebäude verliert der Bonner Plenarbereich seine Funktion. Er war erst im Oktober 1992, nach zwanzigjähriger Planungs- und Bauzeit, bezogen worden und gilt heute als Synonym für „demokratische Architektur“.

taz: Herr Conradi, Sie haben die Planungsgeschichte des neuen Plenarbereichs in Bonn von Anfang an miterlebt. Inwiefern hat sich der Deutsche Bundestag mit der Symbolik des Parlamentsbaus auseinandergesetzt?

Peter Conradi: Es gab zwei oder drei lebhafte Debatten. Eine über den geplanten Abriß des alten Plenarsaals und dessen Bedeutung für die Geschichte der Bundesrepublik. Eine andere, bei der das Parlament über die Bedeutung der Sitzordnung für die parlamentarische Rede und Gegenrede – Miteinander- oder Gegenübersitzen von Regierung und Abgeordneten – stritt. Danach beschloß der Bundestag mit knapper Mehrheit die runde Sitzordnung für den neuen Bonner Plenarsaal, die jetzt in Berlin wieder aufgegeben wird. Die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat die halbrunde Sitzordnung im Reichsgebäude durchgesetzt, damit die Regierung wieder deutlich vom Parlament abgerückt wird – oder besser: dem Parlament wieder vorgesetzt wird, wie zu Kaisers Zeiten.

Beim ersten Reichstagskolloquium 1992 hat der Archtikekt des Bonner Neubaus, GünterBehnisch, gesagt, daß „die historische Hülle des Reichstagsgebäudes wegen ihrer unmaßstäblichen Größe und ihres aufgeblasenen Charakters keineswegs mehr die architektonischen Chiffren moderner parlamentarischer Demokratie“ vertrete.

Ich war nach dem Umzugsbeschluß zunächst dafür, daß der Bundestag nur provisorisch in das Reichstagsgebäude einziehen und ein neues Parlamentsgebäude am Schloßplatz gebaut werden soll. Damit fand ich nicht einmal in meiner eigenen Fraktion eine Mehrheit. Ich habe dann gesagt – und das verursachte einen heftigen Streit mit den Konservativen –, wir wollen keine Rekonstruktion des Gebäudes von 1894, sondern wir wollen es uns mit den architektonischen Mitteln unserer Zeit aneignen. Und das ist uns schließlich mit dem Architekten Sir Norman Foster gelungen.

Viele aus meiner Generation hatten gegenüber dem Reichstagsgebäude Vorbehalte: Wir haben es als wilhelminisch verstanden. Ich habe später gelernt, daß das Reichstagsgebäude ein Ausdruck des erstarkten Bürgertums war, das sich mit diesem Bau gegenüber dem Kaiser und den alten Mächten deutlich absetzen wollte.

Diese Emanzipation vom Kaisertum gipfelte ja vor allem in der Errichtung einer Kuppel, einem Symbol, das bis dato in Deutschland der Kirche und dem Kaiser vorbehalten war. Sir Norman Foster war ursprünglich ein entschiedener Kuppelgegner.

Es ging darum: Eignen wir uns den Bau an, oder ziehen wir in eine disneyartige Rekonstruktion ein? Die Kuppel ist besser geworden, als ich es befürchtet hatte. Mit der Rampe und der Aussichtsplattform gewinnt sie eine neue Funktion. Sie ist auch von außen erkennbar etwas Neues und gibt dem Bau einen ganz anderen, fast ironischen Akzent. Ich sehe sie jedenfalls mit leiser Heiterkeit.

Inwieweit können einzelne bauliche Elemente wie eine Kuppel oder gar ein ganzes Gebäude heute noch als Symbole der parlamentarischen Demokratie verstanden werden?

Ob ein Gebäude den Parlamentarismus ausdrücken kann – da habe ich meine Zweifel. Es kommt darauf an, ob ein Gebäude sich als Parlament eignet, ob es angemessen ist. Ich bin gespannt, ob der feierliche hohe Plenarsaal von seiner Grundstimmung für die politische Debatte – für das Hin und Her der Argumente – geeignet ist. Da bin ich mir nicht so sicher. Der Bonner Plenarsaal war es in hohem Maße.

Mehr noch als die Kuppel repräsentiert der Bundesadler den Deutschen Bundestag. Warum konnte man sich für Berlin nicht auf ein neugestaltetes Wappentier als Symbol des wiedervereinigten Deutschland verständigen?

Foster hat interessante Adler-Entwürfe vorgelegt, aber es war hoffnungslos. Zum einen aufgrund der Rechtslage, die Veränderungen an dem Adler von Ludwig Giese [Schöpfer des seit 1953 im alten Bonner Plenarsaal hängenden Bundesadlers; Anm. d. R.] unmöglich machte. Zum anderen, weil das Parlament die vertraute „Fette Henne“ – als Synonym für einen flugunfähigen und damit friedlichen Adler – wiederhaben wollte. Dieses Bedürfnis nach Reminiszenz verstehe ich: Mit dem Adler kommt die alte Bundesrepublik in das Reichstagsgebäude. Interview: Oliver G. Hamm