„Ein Gefühl, als ob ich Geld klauen würde“

■  Die aus dem Kosovo geflohene Familie Krasniqi lebt seit einer Woche in einem Wohnheim in Hohenschönhausen. Sozialhilfe zu erhalten, löst bei Ismet Krasniqi zwiespältige Gefühle aus. Bei den ersten Behördengängen springt eine vor Jahren geflüchtete Kosovarin als Dolmetscherin ein

Müde sind sie. Erschöpft. Auch noch eine Woche nach ihrer Ankunft. Seit Montag vergangener Woche ist Familie Krasniqi in Berlin – sie waren im ersten Flugzeug, das ingesamt 220 Flüchtlinge aus Makedonien nach Berlin ausgeflogen hat. Ismet und Elfije Krasniqi wohnen jetzt mit ihren vier Kindern in einem Flüchtlingswohnheim in Hohenschönhausen. In den zwei kleinen Zimmern in Haus D der Plattenbausiedlung haben sie sich einigermaßen häuslich eingerichtet.

Der Resopaltisch, auf dem nichts außer einem Aschenbecher steht, ist sauber gewischt, die Betten gemacht, die wenigen Kleidungsstücke hängen im Schrank. Sonst ist das Zimmer leer, die Wände kahl. Denn einzurichten gibt es nicht viel. Noch nicht.

Die Familie konnte fast nichts mitnehmen, als sie von serbischen Einheiten am 2. April aus ihrer Wohnung in Pritina vetrieben wurden, sagt der Vater, Ismet. Er mußte in Pantoffeln seiner Frau flüchten, andere Schuhe fand er in der Eile nicht, übersetzt eine Heimbewohnerin für ihn, die schon länger in Berlin lebt.

Die beiden Töchter, Adelina (22) und Prezarta (19), tragen immer doch die gleiche Kleidung wie am Tag der Flucht – gestreifte Schlaghosen und modische Plateauschuhe. Die Familie wurde zum Bahnhof gebracht, dort mußten sie mit vielen anderen Vertriebenen mit einem Zug bis an die Grenze nach Makedonien fahren.

„Die Serben haben uns körperlich nichts getan“, sagt Ismet und saugt nachdenklich an seiner Zigarette. Viel schlimmer seien die makedonischen Soldaten in den zwei Lagern gewesen, wo sie ingesamt zwei Wochen hausten. Sie hätten ihn geschlagen und getreten, erzählt Ismet. Doch wenn die zahlreichen Journalisten ihre Fotoapparate und Kameras auf das Flüchtlingselend gerichtet hätten, hätten die Soldaten freundlich gelächelt und Brot verteilt. Familie Krasniqi hatte Glück. Sie wurden im Übergangslager Stankovec von Betreuern gefragt, ob sie nach Deutschland wollten. Sie haben sofort ja gesagt.

Einen Tag nach der Ankunft in Berlin müssen die Flüchtlinge zunächst die notwendigen Formalitäten hinter sich bringen. Fürs Ausschlafen wird den 97 Neuankömmlingen keine Zeit gelassen. Röntgenuntersuchung, erkennungsdienstliche Behandlung mit Fingerabdruck und Foto bei der Ausländerbehörde. Dort wird auch die dreimonatige Aufenthaltsbefugnis ausgestellt. Berlin dürfen sie damit nicht verlassen. Und jetzt das Sozialamt.

Hier muß Ismet Krasniqi wieder mit einem Papierwust kämpfen. Mit vier anderen Neuankömmlingen ist er am Morgen mit der Straßenbahn von Hohenschönhausen zum Sozialamt Mitte in der Schillingstraße gefahren. Dort werden alle Flüchtlinge registriert, die vom 1. bis zum 16. Januar geboren wurden. Begleitet werden sie immer von der 18jährigen Dursime Arbaneshi, die seit sieben Jahren im Heim lebt und dolmetscht. Sie arbeitet seit einer Woche fast ohne Unterbrechung – übersetzt, tröstet, berät. Geld bekommt sie dafür nicht. In dem Heim, in dem schätzungsweise 300 bis 400 Kosovo-Albaner und Bosnier leben, gibt es keine festangestellten Übersetzer.

Die Sachbearbeiterinnen im Sozialamt sind freundlich und sehr geduldig. Sie haben extra eine Dolmetscherin engagiert, die allerdings nur serbokroatisch spricht. „Wir haben einen größeren Ansturm erwartet“, sagt eine von ihnen. Ismet Krasniqi, der als Haushaltsvorstand für sich, seine Ehefrau und die beiden minderjährigen Kinder Gesime und Fisnik, die Sozialhilfe beantragt, ist die langwierige Prozedur sichtlich unangenehm. „Ich habe das Gefühl, als ob ich Deutschland Geld klauen würde“, läßt er übersetzen. Der 48jährige, der in Pritina im Gas-Wasser-Werk gearbeitet hat, möchte mit seiner Familie so schnell wie möglich zurück in den Kosovo. Das sagt er immer wieder.

Krasniqi bekommt seitenweise Unterlagen, die er mitnehmen soll oder unterschreiben muß. Krankenscheine, ein „Auszahlungsantrag für Einzelzahlungen“ und Terminkarten liegen vor ihm auf dem Tisch. Die Flüchtlinge erhalten Sozialhilfe nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, 20 Prozent weniger als reguläre Sozialhilfeempfänger und davon nur einen minimalen Betrag in bar.

Dursime Arbaneshi übersetzt jede Anweisung geduldig, Ismet Krasniqi versucht, aufmerksam zuzuhören. Doch er wirkt erschöpft und aufgrund der fremden Umgebung etwas überfordert. Schließlich wird ihm das wichtigste ausgehändigt: „Kostenübernahmescheine für Grundnahrungsmittel, Hygiene und Haushaltsartikel“. Mit diesen unscheinbaren frischgestempelten Din-A-4-Blättern kann er in den meisten Supermärkten in der Stadt einkaufen. Die Scheine, in Hunderterbeträge aufgeteilt, sind insgesamt 1.443,60 Mark wert und müssen für den Lebensunterhalt für vier Personen für vier Wochen reichen. Für Frühstück, Mittagessen, Abendbrot, aber auch für Tampons, Zigaretten, Kosmetik. „Das reicht gerade mal fürs allernotwendigste“, sagt eine der Sachbearbeiterinnen. Kleidung gibt es aus einer öffentlichen Kleiderkammer.

Für die Bearbeitung der Anträge sind je nach Geburtsdatum der Flüchtlinge verschiedene Bezirke zuständig. So müssen die beiden erwachsenen Töchter der Familie Krasniqi beim Sozialamt Wilmersdorf vorsprechen und dort ihre Scheine abholen.

Ein bißchen Bargeld bekommt Ismet Krasniqi dann auch noch: 280 Mark „Taschengeld“ für vier Personen, wie es im Behördenjargon heißt. Von diesem Geld muß alles gekauft werden, was es nicht in den Supermärkten gibt, auch BVG-Tickets. Diese bekommen Schulkinder nur „auf besonderen Antrag“ extra vom Sozialamt bezahlt.

Auf dem Weg zurück hat Ismet Krasniqi kaum einen Blick für die fremde Stadt. Die Stadt kennenzulernen, daran denkt er noch gar nicht. Er möchte nach dem langwierigen Sozialamtsgang so schnell wie möglich zurück ins Heim nach Hohenschönhausen und sich ausruhen. „Die Leute sind wirklich noch sehr erschöpft“, sagt Übersetzerin Dursime. Sie seien „glücklich und dankbar“ über die Zimmer im Heim, über die Kleidung aus der Kleiderkammer und über die Wertgutscheine. Doch, sagt Dursime, dieser „glückliche Zustand“ würde sich bald ändern. Dann nämlich wenn ihnen bewußt werde, daß sie nicht so schnell wieder in die Heimat zurück- kehren könnten, wie sie gerne möchten.

Dursime ist vor sieben Jahren als elfjährige mit ihrer Familie nach Deutschland geflüchtet. Sie hat mittlerweile ihren Hauptschulabschluß gemacht. Dennoch ist es politisch so gewollt, daß sie weiterhin im Heim leben muß und Wertgutscheine bekommt. Die junge Frau hat versucht, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, doch ihr Wunsch scheiterte an den gesetzlichen Bestimmungen. Eine BVG-Karte hat sie auch nicht. Die Stadtgrenzen Berlins hat sie in all den Jahren nicht ein einziges Mal verlassen. Julia Naumann

Der „glückliche Zustand“ wird bald vorbei sein, wenn die Flüchtlinge realisieren, daß es keine schnelle Rückkehr gibt