Wider die Zungenellenbogen

■ Traum oder Alptraum? Eine ambitionierte Gruppe namens „Bremer Musical Company“ plant, in Eigenregie im Herbst ein professionell gemachtes Bremen-Musical namens „Träume“ auf die Bühne zu bringen

Im Anfang war das Wort. Wo sind die Gefühle? / Nur Leere ist geblieben! / Wo sind Vertrauen, Hoffnung und Wärme, / und wo ist bloß die Liebe? Ja, wo zum Teufel ist sie bloß, die Liebe, jenes brauseprickelige Gefühl, das den Ellenbogen auf der Zunge zum verstummen bringt, aus verbiesterten Konkurrenten Freunde, die helfen macht, die hernach beglückt ins Licht gehen, um den Sonnenstrahl einzufangen?

Ach, schnüff, fern ist sie, die Liebe. So erzählen seit Jahrtausenden klagend die Propheten, reimeschüttelnd die Dichter, wortreich die Literaten. Und nun stimmt auch, so schlimmschlimm ist es schon in dieser kalten Welt, ein Diplom-Betriebswirt ins Wehklagen mit ein – mithin ein Vertreter jener von uns allen untertänig angebeteten menschlichen Existenzform, von deren Geistesblitzen Wohl und Wehe der gebeutelten Standorte in Lichtenstein, Deutschland und überhaupt einfach überall abhängen. Ist da eigentlich noch Hoffnung, sind wir noch zu retten? Und wird die Liebe zurückkehren in unsere verschrumpelten Seelen?

Thomas Bläschke zweifelt daran nicht mal einen Augenblick. Mehr noch, umgibt den 28jährigen Diplom-Betriebswirt doch die einnehmende Aura eines Menschen, der niemals denkt: Und ich denk': warum bin ich am Leben, / warum bin ich hier, was ist mein Los?, und der nicht einmal im Traum von dunklen Ahnungen à la Schwarze Treppen führen nach unten, in der Seele klaffen Wunden. / Der Weg, er hat kein Ende, / soll ich springen, schießen, mich erhängen? / Ich wäre frei! belästigt wird.

Thomas Bläschke ist chronischer Optimist. Und Selbstvertrauen haben ihm seine Bremer Eltern nicht nur löffel-, sondern gleich kübelweise eingetrichtert. Derart präpariert, kann er der verkommenen Welt mutig in ihre häßliche Fratze blicken, dabei voller Ingrimm feststellen: „Das Parlament ist schnell gewählt, / kaum sind die Stimmen ausgezählt, / denkt jeder an Diäten dann, / der selbst 'ne Diät gebrauchen kann, um dann trotz allem am Horizont zu erblicken: Heller Glanz wird das Gestern verweh'n, / läßt aus dunklen Schatten / das Morgen entsteh'n.

Ein Träumer, dieser Thomas Bläschke. Aber einer (wir erinnern uns: Betriebswirt!), der davon überzeugt ist, daß Träume nur solange geträumt werden, bis sie – solide finanziert, potenter Sponsorenpool an der Seite, Marketingstrategie in der Schublade, begeisterungsfähiges Team im Rücken – schließlich wahr werden. Bläschkes größter Traum seit vier Jahren: ein Musical aus Bremen. Über das knallharte Konkurrenzgeschäft rund um ein Bühnenstück über die Bremer Stadtmusikanten mit dem naheliegenden Titel „Träume“. Aufgeführt in einer eigenen Spielstätte, mit sehr guten DarstellerInnen, professionellen Arrangements, perfekten Kompositionen. Kurzum: Ein Musical auf dem künstlerischen Niveau von „Jekyll & Hyde“, das aber auf eine kleine Anstoßfinanzierung von 45 Millionen Märkerchen aus dem Hause des Wirtschaftssenators Hattig wohl verzichten muß, ohne einen millionenschweren Werbeetat auskommt und nicht auf eine erfolgreich erprobte Broadway-Vorlage zurückgreifen kann.

Mit solchen Träumen im Kopf vereinsamen normalerweise selbst Betriebswirte ziemlich schnell. Bläschke hingegen singt Ich zieh' mich selbst an den Haaren nach oben, / raus aus dem Sumpf, der mich gefangen hält. / Ich schwimme mich frei in eine neue Welt. / Mein Weg führt ins Licht, mit jedem Schritt wird es heller, / ich spür' die Sonne wieder aufgehen und hat unter anderem auch auf diese Weise viele von seinem „Träume“-Projekt überzeugt. Zumal er mit Kompositionen aufwarten konnte, die qualitativ ohne weiteres zu konkurrieren wissen mit den genretypischen Standards.

28 DarstellerInnen, darunter vierzehn SolistInnen, proben seit Jahren für das „Träume“-Musical. Elf Orchestermitglieder, unter ihnen LehrerInnen an Musikschulen und KammersinfonikerInnen, kümmern sich um die Musik. Zwanzig Leute im Backstage- und Managementbereich sowie eine Bühnendesignerin, eine Gewandmeisterin, ein Dirigent, eine Operetten- und Opernsängerin – allesamt Profis in ihrem Fach – komplettieren das Team, das seit dem Sommer 1997 den Namen „Bremer Musical Company“ (BMC) trägt. Der Unternehmer Birger Winkelvoss schließlich stellt aus reiner Begeisterung eine Probestätte in seiner Firma zur Verfügung und liefert kostenlos Materialien zum Kulissenbau. So wächst das Projekt Monat für Monat und erreicht immer professionellere Grade, obwohl die meisten BMC-Mitglieder kein Geld erhalten oder zu finanziellen Konditionen arbeiten, die nicht mal als Schmerzensgeld durchgehen würden.

Auch der Showmaster Jörg „Bitte melde dich“ Wontorra hat sich bei Bläschke gemeldet, nachdem er ein Kurzprogramm der BMC auf einem Fest goutiert hat. Seitdem betrachtet er sich als Musicalproduzent, läßt es aber aus Bläschkes Sicht am rechten Engagement bei der Beschaffung von Sponsoren vermissen. Deshalb bezeichnet Bläschke ihn doch lieber als „Mitarbeiter“. – Ein Schuß, ein Schrei, die Hose voll. / Das geht sehr schnell und ist normal. Auch die großen Brüder und Schwestern von „Jekyll & Hyde“ kooperieren in der Zwischenzeit mit Bläschkes BMC. „Jekyll & Hyde“-Produzent Frank Buecheler hat das „Träume“-Libretto durchgearbeitet. Und auf Gala-Auftritten darf die BMC exklusiv die Stücke des Musicals am Richtweg aufführen.

Seit mehreren Monaten präsentiert die Company im Presseclub im Schnoor regelmäßig Auschnitte aus „Träume“ und weltbekannten Musicalhits. Während man genußvoll ein Drei- oder Viergänge-Menue in sich reinschaufelt, springen bunte „Cats“ oder abgerissene „Miserables“ zwischen den Tischen umher und verkürzen die Pausen zwischen Vorspeise und Hauptgang. Wenn es dann mit voller Lautstärke Du opferst unser Glück, / Deine Karriere fest im Blick. / Du benimmst dich weltent-rückt / und merkst nicht einmal, was ich fühl': / Ich liebe Dich, / ich brauche Dich. / Doch Du bist so unerreichbar nah' durch den kleinen Saal schallt, ist man spontan schon geneigt, diese brillant tönenden Kehlen mit einer Überportion „Feldsalat mit Forellenfilet und Apfelconfit“ zum Schweigen bringen. Allein: Schon beim „Gefüllten Strudelteigsack an Austernpilzen in Kräuterrahm“ überkommen einen Zweifel an dieser Absicht. Und spätestens beim „Zartbittermousse an Fruchtmark“ sehen selbst Musicalmuffel ein: Musicals sind halt so. Und unter dem Gesichtspunkt, daß Musicals halt so sind, muß das BMC-Ensemble in der Tat den Vergleich mit hochbezahlten Produktionen nicht scheuen. Das Volk tobt regelmäßig, erzählt anschließend herum, einen tollen Abend im Presseclub oder in der Mühle am Wall verlebt zu haben, wo vergleichbare Auftritte zu bewundern sind. Mit dem Effekt, daß die Shows an beiden Orten immer schon Wochen vorher ausverkauft sind. Und das ganz ohne Werbung.

Im Herbst dieses Jahres soll „Träume“ in einer fast dreistündigen Fassung auf die Bühne gebracht werden. Bläschke rechnet mit 350.000 Mark Produktionskosten, ein Vielfaches davon wird für den Kauf bzw. die Anmietung und den Umbau der Spielstätte benötigt. Mit einigen Vermietern werden bereits Verhandlungen geführt. Das zukünftige zweite Bremer Musicaltheater wird, so hofft Bläschke, eine Kapazität von 450 Plätze haben, so daß bei geplanten 100 Vorstellungen im Jahr 45.000 verträumte Gäste zusammenkommen. Gespielt würde an den Wochenenden, so daß das Haus in der restlichen Zeit an interessierte Gruppen vermietet werden könnte.

Klingt, nüchtern betrachtet, alles ein wenig wahnsinnig. Andererseits: Der Mann ist Betriebswirt. Und wer betrachtet traumhafte Projekte schon vorwiegend nüchtern. Und, auch das ein Indiz, daß ein Happy End möglich ist: Die nasengepiercte Bedienung im Presseclub wippte während der Aufführung die ganze Zeit begeistert mit dem Fuß. Und als der „Träume“-Ohrwurm „Das Zauberlicht erleben“ erklang, sang sie den ganzen Text sogar leise mit. Auswendig. So sieht das aus, wenn Träume beginnen, wahr werden. Hoch hinaus wollt' ich flieh'n, / hoch hinaus ins Leben. / Doch dieser Traum ist ausgeträumt, / jetzt bin ich zurück und ich weiß / jetzt genau, was ich will: / ich will das Zauberlicht erleben!

Franco Zotta

Alle kursiven Passagen sind Zitate aus dem Booklet der CD „Träume“. Wer die BMC sehen will: Jeden zweiten Sonntag im Monat in der Mühle am Wall (Tel.: 14 46 6) oder jeden dritten Sonntag im Presseclub im Schnoor (Tel.: 32 64 22). Frühe Anmeldung ist unbedingt ratsam. Am 22. Mai präsentiert die BMC in der Glocke ab 20 Uhr die „Musical Gala 1999“. Eintrittskarten (20-45 Mark) gibt es bei der BMC unter Tel.: 68 38 65 bzw. 65 46 35. Ebendort können sich auch jene melden, die Lust bekommen haben, mitzumachen. Vor allem Männer werden gesucht.