Uralt mit fünfzig

■ Taufrisch und zukunftsfroh wollte das westliche Bündnis sein Jubiläum feiern. Jetzt erlebt die Nato das größte Fiasko ihrer 50jährigen Geschichte

Ein halbes Jahrhundert nach ihrer Gründung vollzieht die Nato den Bruch mit sich selbst. Während der längsten Zeit ihres Bestehens hatte sie ihre Aufgabe in der Machtbalance zweier Weltsysteme. Zwar schuf die Nato auch in der Ära der Blockkonfrontation keinen Frieden. Aber immerhin ist Sicherheit im Sinne von Kriegsverhütung ihr Verdienst.

Davon hat sich die Nato nun losgesagt. Sie verhütet den Krieg nicht mehr, sie führt ihn. Geschaffen in Reaktion auf die Unterwerfung Osteuropas unter sowjetische Herrschaft und zur Bewahrung Westeuropas vor einem ähnlichen Schicksal, stellte das Verschwinden dieser Gefahr die Nato vor die Wahl, entweder ebenfalls zu verschwinden oder sich ein neues Betätigungsfeld zu erschließen.

Nach zehn Jahren Sinnsuche schien die Antwort gefunden: Krisenbewältigung in Europa und darüber hinaus. Mehr Flexibilität, mehr Effizienz sind die Stichworte einer geschmeidigeren neuen Streitkräfte- und Kommandostruktur. Der Mitgliederkreis wurde um die drei ersten östlichen Beitrittskandidaten erweitert. Ein neues strategisches Konzept unterstreicht das wiedergewonnene Selbstbewußtsein. Die Disziplinierung des Belgrader Missetäters sollte den Neubeginn krönen. Das ist gründlich mißlungen. Die Detonationen auf dem jugoslawischen Kriegsschauplatz werden die Festreden in Washington übertönen, das Elend der Entwurzelten vom Kosovo wirft das Gipfelprotokoll über den Haufen.

Seit je war die Nato darauf bedacht, als Wertegemeinschaft und nicht nur als Militärbündnis zu gelten. Was diese Wertegemeinschaft ausmacht, sagt der Gründungsvertrag: Die Partner bekennen sich zu Freiheit, Demokratie und Recht. Und sie übernehmen die konkrete Verpflichtung, sowohl stets in Übereinstimmung mit der UN-Charta zu handeln als auch in ihren internationalen Beziehungen auf jede Androhung oder Anwendung von Gewalt zu verzichten. Mit einem Federstrich hat das bewaffnete Vorgehen auf dem Balkan diese Selbstverpflichtung Makulatur werden lassen.

Ebenso unbedenklich wurden Bausteine zertrümmert, auf denen die Ordnung Europas nach dem Ende des Blockkonflikts ruhen sollte: die Charta von Paris, der Zwei-plus-vier-Vertrag, die Nato-Rußland-Akte. Sie alle enthalten konstitutiv das völkerrechtliche Gewaltverbot.

Nun stehen Vorschriften des Völkerrechts derzeit nicht gerade hoch im Kurs. Daß formalistisch argumentiere, wer an sie erinnert, ist noch der mildeste Vorwurf. Fragen wir also anders: Warum ist der Bombenkrieg der Nato kein Krieg, sondern eine humanitäre Intervention? Die systematische Austreibung der Kosovo-Albaner – nach geltendem internationalem Recht: Völkermord – beantwortet die Frage scheinbar von selbst. Aber eben nur scheinbar.

So kurz kann gar kein öffentliches Gedächtnis sein, um nicht mehr zu wissen, daß der Massenexodus erst nach Beginn der Nato-Luftschläge einsetzte. Seit dem 24. März 1999 bis zum 19. April sind laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR aus dem Kosovo 602.000 Vertriebene nach Makedonien, Albanien und Montenegro gelangt. Zwischen März 1998 und dem 24. März 1999, der Zeit des reinen Bürgerkrieges, waren es 171.000 Menschen, also durchschnittlich 14.000 im Monat. In den ersten vier Wochen des Bombenkrieges gegen Jugoslawien explodierte die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen also auf das Dreiundvierzigfache der Vormonate. Nur eine zufällige Zeitgleichheit?

Selbst wenn sich bestätigen würde, daß der Vertreibungsexzeß in Belgrad von langer Hand geplant war, bleibt die Tatsache unübersehbar: Die Bomben und Raketen der Nato haben ihn nicht verhindert und können ihn weiterhin nicht verhindern. Beide Vorgänge laufen mit trotziger Verstocktheit nebeneinander her. Die Zerstörung von Häusern, Fabriken, Kraftwerken, Straßen, Brücken schädigt die Serben, aber sie hilft keinem einzigen Albaner. Eine humanitäre Intervention ist das allenfalls der Absicht nach, nicht jedoch in der Wirkung.

Um jedes Mißverständnis auszuschließen: Die Schuld an Verbrechen trägt derjenige, der sie begeht. Nicht die Nato verjagt und mißhandelt die Kosovaren, sondern die militärischen und paramilitärischen Schergen unter Belgrader Kommando. Wer aber die Ausführung von Untaten fahrlässig begünstigt, macht sich mitschuldig. Das Versagen der westlichen Politik in der Kosovo-Krise besteht in einer langen Reihe fataler Mißgriffe. Sie beginnt mit dem Ingangsetzen der einseitigen Drohspirale im Juni 1998 und endet mit dem Rambouillet-Ultimatum vom März 1999. Nicht nur Miloevic, auch kein anderer jugoslawischer Politiker irgendeiner Couleur hätte diesen Vertrag unterschrieben.

Der Luftkrieg mitten in Europa hat begonnen, weil er gebetsmühlenhaft angekündigt war. Und er geht weiter, weil er begonnen wurde. Bis zum bitteren Ende? Daß die Nato siegen kann, wenn sie siegen will, steht außer Frage. Sie hält vier Millionen Soldaten unter Waffen, knapp halb so viele, wie Restjugoslawien Einwohner hat. Aber Krieg zu führen, um zu siegen, um sich durch Stärke Respekt zu verschaffen, das ist altes, sehr altes Denken. Es wird demokratischen Gesellschaften nicht unbegrenzt einleuchten. Wie sollte eine Koalition von Staaten andere Staaten zum Verzicht auf Gewalt und zur Befolgung der für alle geltenden Regeln anhalten können, wenn sie sich selbst davon freistellt? Letztlich führt kein Weg an der Rückkehr zu zivilisiertem Verhalten vorbei. Im internationalen System markiert das Völkerrecht den erreichten Grad an Zivilität. Es ist kein weniger kostbares Gut als innerhalb von Gesellschaften der Rechtsstaat. Wo es Lücken aufweist, muß es verbessert werden. Die Abschaffung ist die schlechteste Alternative.

Um einen komplexen ethnonationalen Konflikt hoher Gewaltvirulenz erfolgreich eindämmen zu können, bedarf es der ganzen Bandbreite erfolgsfähiger Instrumente: der politischen Krisenprävention, der friedlichen Streitbeilegung, der Schlichtung und Vermittlung sowie auch der Unterbindung bereits ausgebrochener Gewalt, notfalls durch Gegengewalt. Zweifellos verfügt Europa, verfügt der Westen über sämtliche dieser Instrumente und zusätzlich über ein breites Reservoir an positiven wie negativen ökonomischen Sanktionsmitteln. Die Nato hingegen hat nur ein einziges Mittel, dieses jedoch im Übermaß: militärische Macht. Sie ist ein Bündnis, sie denkt und sie handelt wie ein Bündnis: parteilich und nach den Maximen der höchstwirksamen Bekämpfung eines Gegners. In politischer Konfliktmoderation mit Augenmaß und Stehvermögen hat sie weder Kompetenz noch Erfahrung. Als Monopolist für Krisenbewältigung in Europa ist sie eine Fehlbesetzung. Reinhard Mutz