Ego-Tripping auf skandinavisch

■ Wenn Helden sich die Seele wundlaufen und Raum und Zeit keine Grenzen mehr kennen: Das Arsenal präsentiert eine Auswahl von Filmen der Nordischen Filmtage Lübeck

Eine Frau irrt durch die Stadt, verfolgt von einem kleinen Mädchen. Es ist düster und kalt. Im langen Mantel hetzt die Frau an Bauzäunen vorbei, durch Straßen, die ein trostloses Nirgendwo zerschneiden, hinter ihr immer das Mädchen. Da läuft eine vor sich selber weg. Soviel verraten die Bilder. Und: Da wird eine von der eigenen Vergangenheit eingeholt.

„Feuerschlucker“, ein Film der finnischen Regisseurin Pirjo Honkasalo, erzählt in Rückblenden die problembeladene Familiengeschichte der Schwestern Irene und Helena. Er schildert ihre Kindheit als eine Lebensphase, in der es vor allem gilt, die nächste Erfahrung und den nächsten Sprung ins Leere zu überstehen. Der Film war in Lübeck bei den letzten Nordischen Filmtagen zu sehen. Jetzt zeigen ihn die Freunde der Deutschen Kinemathek zusammen mit einer Auswahl anderer Beiträge des Festivals in Berlin im Kino Arsenal.

Lübeck ist eine der wichtigsten Adressen für den Film aus dem Norden und Nordosten Europas. Man versteht sich hier als Teil einer Tradition, deren Basis das Erzählkino und dessen Suche nach den eigenen Identitäten ist: Der Norden als Landschaft des Ich.

In „Heart Of Light“ jagt ein Mann mit seinem Schlitten über das Eis Grönlands. Der Tod seines Sohnes hat ihn um jede Orientierung gebracht. Doch dann begegnet er einem Einsiedler, der den Verlorenen seine Identität wiederfinden läßt – die ist in diesem Film vor allem eine kulturelle. Ebenso wie „Feuerschlucker“ arbeitet „Heart of Light“ von Jacob Grønlykkes mit einem feierlichen, manchmal pathetischen Ton. Grenzen verwischen, Zeiten und Orte spielen ineinander. Dazwischen laufen sich die Helden die Seele wund. Traumsicher und jeder anderen Wirklichkeit überlegen. Auch die Norwegerin Torun Lian läßt ihre Figuren die harten Bedingungen der Realität vergessen. Ihr Film „Nur Wolken bewegen die Sterne“ (Gewinner des Hauptpreises des Festivals) ist ein Besuch in einem traurig-schönen Märchenland. Nachdem ihr kleiner Bruder an Krebs gestorben ist, zieht sich die elfjährige Maria völlig in Schweigen zurück. Jacob, ein Junge aus der Nachbarschaft, holt sie heraus. Er ist der Prinz, sie die Prinzessin. Jugendfilme haben im Norden einen anderen Stellenwert. Sie sind luxuriös bebildert und aufwendig erzählt, zwischen Kindergeschichten und Erwachsenenfilmen gibt es hier keinen Unterschied.

„Spurlos“ von Hilmar Oddsson, ein Thriller aus Island, läßt einen Mann nach einer wilden Partynacht im Bett mit einer toten Frau aufwachen. Die klassische Ausgangssituation, zu der selbstverständlich eine Gruppe von Freunden gehört, die alles tun, um nicht in die Schußlinie der Polizei zu geraten. Daß der Verdacht trotzdem auf einen von ihnen fallen muß, auch das ist klar. Die Stärken von „Spurlos“ beruhen nicht auf seinem Drehbuch. Eher ist es die Eleganz und der Schnitt der Einstellungen, die dem Film Farbe und Tempo geben.

Nach den Spielfilmen kommt in Lübeck den Dokumentarfilmen ein besonderes Gewicht zu. Was der Bedeutung des Genres innerhalb Skandinaviens entspricht: Erzählen ist kein Privileg, sondern etwas Verbindendes. Es ist eine Einladung zum Gespräch. So porträtiert die Dänin Bente Milton „Gaias Kinder“ körperlich behinderte Menschen; Sigve Endresens begleitet in „Leben unter Löwen“ eine Gruppe krebskranker Jugendlicher. Selbst wenn „Das Auge des Falken“ von Mikael Kristersson die Vogelperspektive einnimmt, der Blick zielt immer auf Gemeinsamkeiten und den Gewinn von neuen Erfahrungen.

Elisabeth Wagner

Bis zum 26. 4 im Arsenal, Welserstr. 25, Vorstellungen jeweils 19 Uhr und 21 Uhr