Amüsante Schlacht um letzte Mauerstücke

■  Nach der Aufhebung der einstweiligen Verfügung zum Schutz der Mauerteile am Potsdamer Platz schickte gestern die Bauverwaltung einen Abrißbagger. Mauerschützer Erich Stanke und die Grünen glaubten sich in Schilda

Noch immer teilt die Mauer die Gemüter in der Stadt. Nachdem das Kammergericht am Mittwoch eine einstweilige Verfügung zum Schutz der authentischen Mauerteile am Potsdamer Platz aufgehoben hatte, schickte gestern die Bauverwaltung einen Abrißbagger los, ohne das schriftliche Urteil abzuwarten. Mauerschützer Erich Stanke, der sich als Besitzer der Betonteile betrachtet und dem mehrere Gläubiger im Nacken sitzen, die die Mauer versilbern wollen, hatte die Nacht in einem Bauwagen vor Ort verbracht. Was sich dann im Laufe des Tages abspielte, verstand nicht nur er nicht.

Um 7.55 Uhr vermeldete dpa das Eintreffen eines Baggers und der Polizei, die der 39jährige Stanke gerufen hatte. Gegen 10 Uhr schickte ihrerseits die Senatsbauverwaltung einen Einsatztrupp der Polizei, Stanke sprach von „Anarchie“. Der Justitiar der Polizei teilte dessen Anwalt, Hanns-Ekkehard Plöger, mit, daß die Senatsbauverwaltung die „Entscheidungsmacht“ habe. Plöger drohte ihm mit einer Anzeige wegen Diebstahls. Dieser zeigte sich unbeeindruckt und verschwand.

Unterdessen hatte sich der Platz an der Stresemannstraße, wo hinter den Mauersegmenten startklare Bagger und Lkws standen, gefüllt. Dutzende von Journalisten, die kulturpolitische Sprecherin der Grünen, Alice Ströver, mehrere Vertreter der Bauverwaltung und jede Menge Berliner und Touristen wurden Zeugen einer Provinzposse erster Güte. Während alle darauf warteten, daß irgend etwas geschieht, befand der Lkw-Fahrer der beauftragten Baufirma in der Sonne: „Damals schrien die Leute, daß die Mauer wegmuß, und jetzt ist es ihnen auch nicht recht“, sagte er und betonte, daß er Ostberliner sei. Auch der Bauleiter der Senatsverwaltung harrte aus: „Wir warten darauf, von unserem Hausrecht Gebrauch zu machen.“ Hauptabteilungsleiter Frieder Bühring, der den Bauleiter am 13. August vergangenen Jahres, als schon einmal Bagger losgeschickt wurden, mit den Worten „Ihr seid wohl verrückt!“ abgewatscht hatte, versuchte unterdessen vergeblich, die Journalisten zur Pressekonferenz von Senator Klemann zu lotsen.

11.15 Uhr kam Bewegung in das Schilda am Potsdamer Platz: Sowohl Stanke als auch die Bauverwaltung erteilten Hausverbote. Die Polizei ließ niemanden mehr auf das Gelände. Weil die Beamten nicht wußten, wer Michaele Schreyer ist, wollten sie auch der Fraktionschefin der Grünen den Zugang verweigern. „Ich will Herrn Stanke meine Solidarität ausdrücken“, sagte sie und wurde von ihm aufs Gelände gelotst. Kurze Zeit später trafen auch der langjährige Fraktionschef der Grünen, Wolfgang Wieland, und die zweite Fraktionschefin, Renate Künast, ein. 11.40 Uhr kündigte die Polizei die Räumung an. „Ich rufe das SEK!“ rief Anwalt Plöger. Der Einsatzleiter stellte sich stur: „Wir setzen unsere Maßnahme durch.“ Bis es dazu kam, wurde die Situation immer absurder. Stanke glaubte dem Sony-Vertreter nicht, daß er wirklich von Sony sei. Während er ihn aufforderte, sich auszuweisen, rief sein Anwalt im Büro von Generalstaatsanwalt Karge an und sprach von „Regierungskriminalität“. 11.45 Uhr traf Polizeiverstärkung ein. 11.56 Uhr wurde der Bagger angeworfen. „Wie bei dem Limes wird man die Mauer wieder aufbauen“, prophezeite Wieland. 12.02 Uhr verkündete der Einsatzleiter: „Wir stellen jetzt die Personalien fest wegen Hausfriedensbruch.“ Stanke wurde immer verzweifelter. „Ich verstehe das alles nicht“, rief er. 12.07 Uhr fing die Polizei an, die Leute, die auf dem Gelände des Landes Berlin standen, Richtung Stresemannstraße zu schieben. Schreyer, Ströver und Wieland standen vor einem Mauersegment mit dem Spruch „Can I stay“. Dann sprach Wieland einen Satz, den er vor zehn Jahren so niemals gesagt hätte. „Die Mauer muß bleiben!“ sagte er. „Neue Zeiten fordern neue Parolen“, fügte er hinzu. 12.10 Uhr wurde der sanfte Druck der Polizei entschlossener. Journalisten und die Grünen wurden in Richtung Stresemannstraße „geführt“. Nach wenigen Metern blieben sie stehen. Sie hatten das rettende Bundesgelände erreicht. Wieder standen sie vor einem passenden Spruch:„Don't destroy history“. 12.16 Uhr wurden die Personalien der Grünen aufgenommen. 12.18 Uhr zäunte die Polizei die Fläche des Landes und von Sony ein. 12.20 Uhr legte der Bagger los. Ströver rief vergeblich nach „gesundem Menschenverstand“.

Die Vertreter der Bauverwaltung indes waren zufrieden. Die abgerissenen Teile wurden auf den Güterbahnhof am Lehrter Bahnhof gebracht, die Segmente auf dem Gelände des Bundes bleiben vorerst stehen. Fortsetzung folgt. B. Bollwahn de Paez Casanova