"Ich habe Angst"

■ Der Holocaust, das Mitleid und die Literatur: Ein Gespräch mit der polnischen Autorin Hanna Krall über ihre schriftstellerische Arbeit

Hanna Krall, 1937 in Warschau geboren, überlebte als Jüdin den Krieg im Versteck bei polnischen Familien. Seit den 50er Jahren arbeitet sie als Journalistin. Der internationale Durchbruch als Schriftstellerin gelang ihr mit der Reportage „Dem Herrgott zuvorkommen“ (1977) über den stellvertretenden Kommandanten des Warschauer Ghettoaufstandes, Marek Edelmann. Ein autobiographischer Roman „Die Untermieterin“ und mehrere Erzählbände mit literarischen Reportagen über jüdisch- deutsch-polnische Schicksale folgten. Auch ihr neues Buch „Da ist kein Fluß mehr“ (Verlag Neue Kritik, Frankfurt/Main 1999, 200 Seiten, 38 DM) handelt von Menschen, die den Holocaust überlebt haben.

taz: Frau Krall, was ist die angemessene Form für die Beschreibung des Schrecklichen?

Hanna Krall: Ich habe keine Freiheit, was die Form angeht. Die Geschichten, die ich schreibe – über den Krieg, die jüdisch-polnisch-deutsche Geschichte – sind schrecklich. Man kann sie nicht mit schönen Worten, Metaphern und Gleichnissen erzählen. Ich muß die allereinfachsten Worte verwenden, zugleich aber muß diese Schlichtheit in eine gewisse Form eingepackt sein. Zum Glück ist die Syntax des Polnischen ziemlich elastisch; alles geschieht in einem bestimmten Rhythmus.

Sind Sie in bezug auf den Inhalt freier?

Ich bin von Fakten abhängig wie ein Drogensüchtiger vom Heroin. Man kann sich eigentlich nichts Klügeres und Besseres ausdenken als das, was schon durch das Leben, das Schicksal, die Vorsehung, den lieben Gott – wie immer man es nennt – ausgedacht ist. Ich kann ohne Fakten nicht leben. In diesem Sinne habe ich keinerlei Freiheit, eine Fabel zu erfinden. Manchmal möchte ich etwas anders lenken und ein bißchen zurechtrücken, aber das darf ich nicht.

Wo finden Sie die Geschichten?

Meist durch Zufall. Manchmal finden die Geschichten mich. Im Augenblick gibt es keine Woche, in der ich nicht jede Menge Briefe und Telefonanrufe bekomme. Manche haben furchtbare Geschichten zu erzählen, und ich sage ihnen: „Nein, das kann ich nicht schreiben. Tragen Sie es ins Archiv.“ Die Leute sagen dann: „Ich habe Ihnen erzählt, wo ich versteckt worden bin, wie ich gerettet wurde und lebend rausgekommen bin und das genügt Ihnen immer noch nicht?“ Und ich antworte dann: „Für das Leben reicht Ihre Geschichte. Für die Literatur reicht sie nicht.“

Was reicht für die Literatur?

Wenn in einer Geschichte, die man mir erzählt, noch ein Geheimnis steckt. Es muß eine ewige Geschichte sein, in der die paar ewigen Dinge vorkommen: Liebe, Haß, Angst, Mut, Erniedrigung, Ehre, Würde. Die ganze Welt ist im Grunde die Szenerie, die sich um diese Dinge dreht.

Es geht Ihnen nicht darum, stets etwas Neues zu erzählen?

Nein, denn alle Geschichten sind schon gewesen. Es geht immer um dasselbe. Ich müßte eigentlich schon aufhören, mich über die Geschichten, die mir begegnen, noch zu wundern. Vielleicht ist das auch das Kriterium, das mich dann doch dazu verführt, eine Geschichte anzunehmen: Daß ich immer wieder erstaunt bin, daß so etwas möglich ist. Zum Beispiel die Geschichte des deutschen SS-Mannes, der die Jüdin Pola liebt und sie am Ende erschießt. Oder die eines anderen SS-Mannes, der seine ehemalige jüdische Lieblingsschülerin aus der Schlange zur Gaskammer herauszerrt und versteckt. Oder die Geschichte, in der sich eine Familie weigert, jemanden aus dem Ghetto zu holen und wo nach und nach – fast wie zur Strafe – ein Familienmitglied nach dem anderen umkommt, bis nur mehr die Großmutter übrigbleibt.

Glauben Sie, daß das die Strafe für die unterlassene Hilfe war?

Das hängt natürlich in der Luft, aber ich kann mich nicht erdreisten, mit „Ja“ darauf zu antworten. Das gehört sich in dieser Geschichte nicht. Ich sage darin, es sei Zufall gewesen – aber das war auch meine Pflicht. Ich glaube nämlich, daß es überhaupt keine Zufälle gibt.

Haben Sie keine Angst davor, nach schrecklichen Geschichten zu fragen?

Die Leute erzählen, ich schreibe. Das ist eine gemeinsame Sache. Dem geht die Vereinbarung voraus, daß die Geschichte an die Öffentlichkeit kommt, damit viele Leute sie hören. Natürlich kommt es auch vor, daß ich in einem Gespräch an eine Stelle komme, an der ich eine Frage stellen müßte und sie nicht stelle. Zum Beispiel in der Geschichte von Dorka, der ein SS-Mann im Konzentrationslager täglich eine Flasche Milch mit Zucker schickt. Sie war damals fünfzehn, ein sehr süßes Mädchen. Natürlich hätte ich fragen können, ob er für die Milch etwas verlangt hat. Aber ich habe es nicht getan.

Wenn man die Geschichte liest, stellt sich diese Frage.

Vor mir saß eine alte Frau, angemalt, mit roten Flecken auf den Wangen, herzkrank. Neben ihr saßen ihr Mann, ihre Kinder, ihre Enkel. Kein Mensch hat dann das Recht, eine solche Frage zu stellen.

Wollen die Leute die Geschichten sehen, bevor sie erscheinen?

Immer, aber ich lasse mich nie darauf ein. Das wäre ja eine Art von Zensur.

Und wie sind ihre Reaktionen nach dem Erscheinen der Texte?

Alles, was ich schreibe, gefällt ihnen. Mit einer Ausnahme: der Geschichte, die ich über sie selbst erzähle. Sie sagen: „Frau Hanna, das ist so kurz und so wenig. Ich habe Ihnen so viel erzählt, und Sie machen daraus fünf, sechs Seiten.“

Machen Sie solche Reaktionen unsicher?

Nein. Ich versuche zu erklären, daß der Leser lange Geschichten nicht durchhält. Sie müssen so kondensiert, so zusammengedrängt sein, wie es nur geht. Meine ganze Anstrengung als Autorin geht dahin, aus diesen langen Geschichten etwas ganz Intensives, Kurzes, Dichtes zu machen.

Glauben Sie, daß es für die Leute – damit sie Ihnen ihre Schicksale erzählen – wichtig ist zu wissen, daß Sie eine ganz ähnliche Geschichte erlebt haben?

Nein, sie wissen nichts über meine Erlebnisse. Sie kommen zu mir, weil sie wissen, daß ich schon viele solcher Geschichten gehört und beschrieben habe.

Wo setzen Sie die Grenzen dessen, was Sie an Schrecklichem beschreiben?

Mein Organismus setzt diese Grenzen. Was ich selbst nicht aushalten kann, schreibe ich nicht, weil es auch mein Leser nicht aushalten wird. Ich habe mit ihm, aber auch mit mir selbst Mitleid.

Sie meinen, das sei eine Frage der Erträglichkeit?

Ja, ein Mensch kann mit einem anderen nur dann mitfühlen, wenn das Maß noch stimmt, wenn es nicht über die eigenen Belastungsgrenzen hinausgeht.

Sie möchten vermeiden, daß bei Ihren Lesern Mitgefühl in Entsetzen umschlägt?

Ja. „Dem Herrgott zuvorkommen“, mein Buch über Marek Edelmann, den stellvertretenden Kommandanten des Warschauer Ghetto-Aufstandes, das in Polen 25 Auflagen hat, Schullektüre ist und in viele Sprachen übersetzt wurde, wird auch deswegen immer noch gelesen, weil man sich mit den Figuren und den grauenhaften Dingen, die sie erleben, identifizieren kann. Vor kurzem habe ich eine 20jährige kennengelernt, die mir sagte, sie träume von Zeit zu Zeit von dem Mädchen aus „Dem Herrgott zuvorkommen“, das sechsmal auf sich schießt und den Aufständischen sechs Patronen versaut. Ich glaube, sie kann nur deswegen von diesem Mädchen träumen, weil sie keine Angst vor ihr hat. Sie hat sie so leibhaftig vor sich, daß sie ihr nicht als Heldin erscheint – mit ihrem Pfirsichteint und ihrer zitternden Hand, die fünf Mal danebenschießt. Wäre sie eine Heldin, würde sie nicht von ihr träumen.

Wenn Sie die Opfer nicht als Helden darstellen wollen, wollen Sie dann auch die Deutschen, die Täter, nicht als Monster zeigen?

Das waren Monster. Ich habe Angst vor ihnen. Deswegen weiche ich dieser Annäherung aus. In meiner Geschichte über das Hamburger Polizeibattaillon gibt es eine Episode über eine Künstlertruppe aus Berlin, die gern einen Tag lang an den Erschießungen der Juden teilnehmen will. Ich hätte vor diesen Leuten Angst. Einmal habe ich in der Erzählung „Phantomschmerz“ in „Tanz auf fremder Hochzeit“ aus der Nähe über einen Deutschen geschrieben: Axel von dem Bussche, einen Wehrmachtsoffizier aus der Gruppe um den Hitler-Attentäter Stauffenberg. Von dem Bussche hat mir erzählt, wie sein Freund am ersten Kriegstag auf seinen Knien gestorben ist. Das war das erste Mal, daß ich mit einem deutschen Soldaten Mitleid hatte. Ich war über dieses Gefühl sehr beunruhigt.

War das das erste Mal, daß sie sich für das Schicksal eines Deutschen interessiert haben?

Nein, der erste war der RAF- Terrorist und Schleyer-Attentäter Stefan Wisniewski. Ich habe von ihm eine Postkarte aus dem Gefängnis bekommen. Er hatte sich in der Gefängnisbibliothek „Dem Herrgott zuvorkommen“ ausgeliehen und mir geschrieben. Ich wollte herausfinden, warum er Wisniewski hieß. Es hat ein Jahr gedauert, bis mir das deutsche Innenministerium eine Gesprächserlaubnis gegeben hat. Es stellte sich heraus, daß er der Sohn eines Polen war, der in Dachau eingesperrt gewesen war. Er war der erste Deutsche, über den ich eine Geschichte geschrieben habe. Aber auch in meinem neuen Buch kommen viele Deutsche vor.

Trotzdem sind es Geschichten über jüdische Schicksale.

Ja, die Deutschen sind die Instrumente dieses Schicksals.

Bei Ihren Lesungen bitten Sie Ihre Zuhörer immer darum, Ihnen eine Geschichte zu erzählen.

Ich schließe meine Lesungen mit dieser Frage. Früher kamen dann so ein, zwei feinfühlige Leute an meinen Tisch. Jetzt kommt eine riesige Gruppe: die, die Autogramme wollen, die, die mir irgendetwas in die Hand drücken, und dann kommen auch die, die mir ihre Geschichte erzählen wollen. Das ist ein echtes Problem für mich.

Warum?

Weil ich dessen schon müde bin. Interview: Julia Kospach