Spielräume des Deals

■ Systematische Desorientierung: Steven Zaillian streift mit seinem Film „Zivilprozeß“ knapp am Genre des Gerichtsthrillers vorbei

Der Anwalt Jan Schlichtmann steht mit seinem feinen, blauen Mantel in einem öden Winterwald. Das Blau leuchtet und paßt nicht in die Umgebung. Aus dem reichen Boston ist Schlichtmann (John Travolta) nach Woburn, einem kleinen Ort in Neuengland, gekommen, wo eine Gerberei mit gefährlichen Chemikalien das Grundwasser vergiftet hat. Manche Bürger des Ortes sind erkrankt, und einige Kinder sind bereits an Leukämie gestorben. Deren Eltern haben sich an Schlichtmann gewandt, einen Spezialisten für Schadenersatzfragen, der es allerdings nicht ertragen kann, wenn der Gegenstand seiner Arbeit ihm persönlich zu nahe kommt. Er steht plötzlich verstört im Wald, nachdem er seinen Mandanten von Woburn fluchtartig den Rücken gekehrt hat.

Systematische Desorientierung ist es, was Steven Zaillian in „Zivilprozeß“ zum Prinzip erhebt: die Verunsicherung des Helden, der erst über seinen Abstieg wirklich zum Helden wird. Neben der wahren Geschichte eines Umwelt- und Gerichtsskandals aus den 80er Jahren erzählt der Film also die Geschichte einer Läuterung. Die Verwandlung geht leise und fast unmerklich vonstatten, subtil wie jene Irritation, die das Hollywood-Blau von Schlichtmanns Mantel in dem realistisch gräulichen Nebel im Wald von Woburn hervorruft.

Zurück von seinem Spaziergang, ist Schlichtmann entschlossen, den Fall zu übernehmen. Er fährt nach Boston und beginnt mit der Arbeit. Es soll ein großer Sieg werden. Etwas, das weit über die Millionen-Dollar-Grenze hinausreicht. Kriegserklärungen müssen her, Gegner und Feinde. Doch in dem Moment, in dem Schlichtmann sein Ziel definiert hat, tritt auch schon sein Widerpart in Erscheinung: Jerome Facher (Robert Duvall), der Anwalt der Gegenseite. Facher ist ein Vorbild an Kampfbereitschaft und strategischem Genie. Der berühmte Verteidiger, der gewiefte Fuchs – im Untergeschoß, zwischen Regalen und verstaubten Akten hockt er da wie ein alter Buchhalter bei der Mittagspause. Vor seinem wackeligen Radio, einem angebissenen Brot, Kreuzworträtsel lösend. Es ist das Bild eines Gurus oder das eines Fanatikers. Facher schweigt, zieht die Augenbrauen hoch und lächelt rätselhaft. Und jedesmal geht ein Stück Hoffnung auf ein gerechtes Ende verloren.

„Zivilprozeß“ ist kein Gerichtsdrama im üblichen Sinne. Alles, was dem Auftritt des Anwalts Glanz und Sex-Appeal verleihen könnte, läßt der Film höflich beiseite. Statt dessen werden Anträge gestellt, Vergleiche angestrebt. Zaillian hat sich weniger für die Bühne des Gerichtssaals als für die Spielräume des Deals interessiert. Man verhandelt in Konferenzzimmern eine Art Handelsabkommen, und die Kamera gleitet sanft darüber hinweg. Der eigentliche Skandal bleibt private Tragödie. Das ist der Spielplan. Als Schlichtmann versucht, diese Regelung zu durchbrechen und ein Urteil, ein Eingeständnis von Schuld zu erzwingen, geht er in den eigenen Konkurs.

Steven Zaillian ist als Drehbuchautor bekannt geworden. Für das Drehbuch zu „Schindlers Liste“ bekam er den Oscar. Nun ist ihm mit seinem zweiten Spielfilm (nach „Searching for Bobby Fischer“) ein Film gelungen, der mit der Strenge seines Plots ebenso kalkuliert wie mit Irritationen. Dazu gehört Selbstbewußtsein. Immer wieder gestattet er sich Szenen, die in ihrer Langsamkeit und Stille aus dem Genre herausfallen: Ein Vater (James Gandolfini) sieht seinen Kindern dabei zu, wie sie Wasser trinken. Er möchte ihnen das Glas aus den Händen schlagen.

Der Vater arbeitet in der Gerberei, und er weiß, was mit dem Wasser los ist. Doch die Familie hat wenig Geld. Wegziehen ist nicht möglich, den Job kündigen schon gar nicht. Niemand sagt etwas, nichts passiert. Die Kamera zeigt nur die vollen Gläser, die trinkenden Kinder, ein normales Mittagessen. Und den Vater, der sich ein verzweifeltes Lächeln abringt.

Elisabeth Wagner

„Zivilprozeß“. Buch und Regie: Steven Zaillian. Mit John Travolta, Robert Duvall, William H. Macy u. a. USA 1999, 115 Min.