Herabfallende junge Menschen

Sie nehmen sich ernst und finden sich okay: Mit vier verwahrlosten Vorstadtfiguren in Lionel Spychers Stück „Pitbull“ rollt eine ganze Welle neuer französischer Dramatik heran. In der Berliner Baracke inszenierte Michael Talke die Erstaufführung  ■   Von Petra Kohse

Nach der britischen also die französische Dramatik. Europa rollt heran, und auch in dieser Beziehung kämmt sich das Theater als Leitmedium der Verständigung zurecht. Es steht ihm gut. Nach Jahrzehnten oft vergeblich wirkenden Distinktionsversuchen im Bereich des Ästhetischen (oder weiß wirklich jemand, was genau gemeint ist, wenn in einer Künstlervita betont wird, der Betreffende habe bei Jacques Lecoq in Paris studiert – ?), läßt sich Internationalität jetzt laut vorlesen und werden mit dem gerngesehenen Anderen konkrete Vorstellungen von Gesellschaft transportiert.

Die sozialen Härten und Sehnsüchte im England des Mark Ravenhill („Shoppen und Ficken“) oder der Sarah Kane („Zerbombt“), die verzweifelte Versponnenheit im Irland eines Enda Walsh („Disco Pigs“) – sie haben die deutschen Stadttheater erreicht, und man macht sich dort jetzt ein Bild. Auch die Jury des Preises Europa für das Theater hat schnell reagiert und ehrt das Londoner Royal Court Theatre, eine Brutstätte des britischen Autorentheaters, in den nächsten Tagen mit dem Preis für „neue theatralische Realitäten“ im sizilianischen Taormina.

In Deutschland indessen rückt sich das französische Drama ins Licht der Öffentlichkeit. Catherine Anne, Xavier Durringer oder Jean-Luc Lagarce sind Namen, die man schon in wenigen Monaten nebenbei in Gesprächen fallenlassen wird, und jeder wird wissen, wovon die Rede ist. Denn neue Texte werden in unseren Theatern derzeit zu Dutzenden gebraucht – die Klage zeitgenössischer Autoren, sie würden nicht gepflegt, bezieht sich in der Regel auf das Nachspielen ihrer Stücke. Ur- und Erstaufführungen hingegen sind manchmal sogar schneller angesetzt, als es der Sache nützt.

Catherine Anne also und auch Joäl Jouanneau und Philippe Minyana (wenngleich die letzten beiden schon gut in ihren Fünfzigern sind). Im Verlag der Autoren ist – gewissermaßen als Antwort auf „Playspotting“ die „Londoner Theaterszene der 90er“ bei rororo im letzten Jahr – unter dem Titel „Scène“ soeben eine Sammlung von fünf französischen Stücken auf deutsch erschienen. Leider ohne porträtierende Interviews mit den Autoren, aber bitte – wir danken auch für kleine Gaben.

Vorgestellt wurde dieses Buch am Mittwoch in Berlin in der Baracke des Deutschen Theaters, als Eröffnung einer Woche der französischen Dramatik, der dritten mittlerweile an diesem Ort. Diesmal aber schlägt die Sache höhere Wellen. Nicht nur die Manifestation als Buch garantiert Gewicht und Nachhaltigkeit, sondern flankierend gibt es auch Tage der französischen Dramatik in Dresden (17. April), in Düsseldorf (29./30. Mai) und in München (11./12. Juni).

Neben allerlei szenischen Lesungen wartet Berlin sogar mit einer richtigen Inszenierung auf: mit der deutschsprachigen Erstaufführung von „Pitbull“, dem ersten Stück des 28jährigen Lionel Spycher (in der Übersetzung von Uli Aumüller).

Es handelt sich allerdings um eine seltsame Sammlung pathetischer Monologe. Ist das wirklich der Ton der französischen Vorstädte? Sind das die Typen, von denen unsereiner jenseits der Dreißig keine Ahnung mehr hat? Seelisch verwahrloste Kinder, die sich mit Hundekämpfen senkrecht halten, von religiösen Kreuzzügen delirieren oder als poetische Geste von Parkhausdächern fallen? Weil sie, soweit männlich, nicht in der Fabrik arbeiten wollen oder, soweit weiblich und arabischer Herkunft, damit einverstanden sind, weniger wert zu sein als ihre Brüder! Und dazu dieser Hundekitsch! Der Pitbull als Leitbild und Familienersatz – „Ihr seid Hunde!“ sagt am Ende ein Polizist zu den Vorstadtkindern, und das ist vom Autor sehr ernst und anklägerisch gemeint.

Inszeniert hat Michael Talke, ein Volksbühnen-Sproß, dem das Autorentheater eigentlich nicht primäres Anliegen ist. Gutgelaunt stellte er sich dem Pathos mit viel streicherlastiger Filmmusik, Akkordeonklängen, einer schönen Seifenblasenmaschine und viel entschlossener Schauspielerei im ironisch-sakralen Umfeld eines mit lila Velours ausgeschlagenen rechteckigen Spielfelds (Bühne: Barbara Steiner).

Mit Charme und Geschick taumeln die jugendlichen Figuren in ihrer jeweiligen Einsamkeit denn umeinander, ohne daß das schicksalhafte Geschehen zeigefingernd zur Anklage geriete. Vielmehr nehmen sie sich ernst und finden sich okay. Jule Böwe, die als „Prinzessin“ ihre Gottesvorstellung in Form von Mistgabeln und Kalaschnikows hütet und in einem großen Einkaufsbeutel ein zerrupftes Flügelpaar spazierenträgt oder Ronald Kukulies als ihr Cousin „Thomas“, der lieber kifft als spricht und das Leben mit kindlichen Armbewegungen von sich fernzuhalten sucht. Oder „Luc“ mit dem Kampfhund-Sweatshirt (André Szymanski) und „Leila“ mit ihren straßbesetzten Riemchenpantoletten (Marina Galic). Zweifellos liegt bei ihnen eine angenehme Ratlosigkeit unter dem Text.

Aber wie dem Stück fehlt es der Inszenierung letztlich an regulierender Außenwelt, an Struktur, nun ja: Persönlichkeit. „Das Böse ist schlecht, und Gott ist alt“, heißt es am Ende. „Aber wenn man keine Wahl hat, dann muß man doch an irgend etwas glauben.“ Wenigstens sophistisch steht die Sache auf sicheren Füßen.