Querspalte

■ Die seltsame neue Hauptstadt

So allmählich und unmerklich wird das Leben tougher in der Hauptstadt. Zeichnete sich der Berliner Frühling ansonsten eher durch schwatzhafte Pollenpromiskuität und allerlei sonstige sentimentale Dinge aus, werden unsere Menschen hier vor dem Hintergrund von Luftschlägen und der Eröffnung des Berliner Reichstags etwas merkwürdig. Oder sterben gleich, wie der 64jährige, der beim langen Warten auf Einlaß in unser neues, schönes Regierungsgebäude zusammenbrach.

Ein paar Tage zuvor gab es Buttersäureanschläge auf das Fest der taz zum 20. Geburtstag – der Gestank wurde auf drei Seiten taz-Fest-Jubelberichterstattung mit keinem Wort erwähnt, weil die Wahrheit immer das erste Opfer des Krieges ist.

„Ick gloob', ick krieg' gleich 'ne Kosovo-Krise“, meinte der Kollege Helmut Höge, und überhaupt sind alle hier verwirrt und durcheinander: Der ehemalige RAFler Horst Mahler hat sich als Gastredner der NPD angekündigt, Klaus Rainer Röhl, Ex-Mann von Ulrike Meinhof, denkt in der neuesten Ausgabe der Deutschen Militärzeitschrift (DMZ) über doppelte Staatsbürgerschaften nach.

Das Neue Berlin gibt sich übrigens auch sehr geschichtsbewußt. Am 20. 4. fand in der Gaststätte „Bergwerk“ zum Beispiel ein Hitler-Wettbewerb statt, den ein sächselnder Schwarzer in der obskurantistischen Kategorie „schwarz wie Hitler“ gewonnen hatte, was mich zum Fußballspieler Didi Hamann führt, dem seine Mannschaftskollegen von Newcastle vor einigen Wochen „Mein Kampf“ zum Geburtstag geschenkt hatten. Hamann war leicht „angefressen“. Auch Slobodan Miloevic, der seit 19 Jahren in Großbritannien lebt, ist sehr verärgert über die Versuche, ihn zu interviewen. Er sei nicht mit dem gleichnamigen Präsidenten verwandt und hätte auch keine sechs Millionen auf Schweizer Konten deportiert. Detlef Kuhlbrodt