Auf der Suche nach dem „wahren Hitler“

Der US-Journalist Rosenbaum setzt sich mit den Versuchen der Biographen auseinander, Hitler zu deuten. Vielen gilt dieser als das personifizierte Böse, das theologisch erklärt wird. Für einige ist er ein triebgestörter Mensch, für andere ein kulturelles Produkt  ■ Von Annette Jander

Vor einiger Zeit lief ein amerikanischer Spielfilm namens „Die üblichen Verdächtigen“ in den deutschen Kinos, der mehrere Versionen einer düsteren Geschichte erzählt, die vielen Menschen den Tod bringt. Die unterschiedlichen Versionen der Geschichte stammen von einem unscheinbaren, hinkenden Mann, dem einzigen Überlebenden. Erst ganz am Schluß offenbart sich in dieser Figur das personifizierte Böse, der Eckpfeiler der ganzen Fabel, der Massenmörder – in einer einzigen Szene, die keine zehn Sekunden lang ist. Es ist zu spät, er entkommt. Die Zuschauer und die Polizei sind einer Vielzahl von Lügen aufgesessen. Nur die Toten sind unbestreitbar.

Die Lektüre des 600-Seiten-Essays von Ron Rosenbaum über die Versuche vieler Biographen, Hitler zu deuten, läßt die Leser ähnlich verwirrt wie die Kinozuschauer zurück. Der wahre Adolf Hitler möge bitte vortreten.

Das Buch des US-Journalisten Rosenbaum ist in den USA ein Bestseller und wurde von der Kritik überwiegend enthusiastisch aufgenommen. Dort ist die Beschäftigung mit Persönlichkeiten in der Geschichtsforschung wesentlich ausgeprägter als hierzulande, und Adolf Hitler ist nach wie vor der bekannteste Deutsche in Amerika.

Rosenbaum hat viele der maßgeblichen Hitler-Interpreten in England, den USA und Israel interviewt, nachdem er sich mit ihren Thesen auseinandergesetzt hatte. Das vorliegende Werk ist die Synthese aus diesen Interviews, seiner Lektüre und einem inneren Monolog Rosenbaums. Für deutsche Leser mag das ungewohnt sein, aber es ist interessant und lebendig, wenn auch eine weitere Straffung durch das Lektorat der Lesbarkeit nicht geschadet hätte.

In der Galerie der üblichen Verdächtigen der „Hitler Studies“, wie Rosenbaum die Disziplin ironisch in Anlehnung an Don DeLillo nennt, begegnen wir vom Scharlatan Hitler der amerikanischen Historikerin Lucy Dawidowicz bis zum zögerlichen „Hamlet Hitler“ von Christopher Browning fast allen gängigen Interpretationen. Zeitzeugen, Historiker, Psychologen und Theologen haben im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte zu dieser Galerie beigetragen. Vor allem amerikanische Psychologen haben sich auf die angebliche sexuelle Insuffizienz und/oder Perversion Hitlers eingeschossen. Diese Thesen beziehen auch die anderen, vor allem die männlichen Deuter Hitlers in ihre Arbeiten ein, weshalb dies heute aber nicht minder obskur erscheint und in der Geschichtsforschung keine Rolle als Deutungsmuster mehr spielt. Dennoch beschäftigten sich viele mit diesem Ansatz.

Der Psychologe Rudolph Binion wurde auch hierzulande mit seinem Buch „...und daß ihr mich gefunden habt“ bekannt, in dem er auf die sexuellen Komponenten der Hitler-Vita eingeht. Diese als Ursache für den Holocaust zu belegen ist unsinnig, und auch Rosenbaum sieht darin nur ein kleinstes Puzzlestück des Gesamtbildes.

Abgesehen von den vielen Hitlers und imaginären jüdischen Vorfahren desselben, die in Rosenbaums Buch herumgeistern, treffen wir auf eine Menge interessanter und verschrobener Leute. Daß ausgerechnet Claude Lanzmann zu letzteren gehört, ist erschreckend, denn sein Film „Shoa“ ist großartig.

Aber Rosenbaum erfährt Lanzmann als einen moralischen Despoten, der die Frage nach dem Warum des Massenmordes kategorisch verbietet. Lanzmann scheint sogar zu postulieren, „Shoa“, der Film, habe alle diesbezüglichen Angelegenheiten ein für allemal geregelt. Mit Vehemenz verbietet er ebenso den Abdruck der Kinderbilder Hitlers. Der Schlächter als unschuldiger Säugling ist ein Bild, das nicht sein darf. Dennoch prangt es auf dem Schutzumschlag der Originalausgabe von Ron Rosenbaums Buch.

Die Porträts der Historiker, Theologen, Psychologen und Philosophen wie Alan Bullock, George Steiner, Milton Himmelfarb, Yehuda Bauer, Lucy Dawidowicz, Emil Fackenheim oder auch eines von seinen Kritikern 1996 arg gebeutelten Goldhagen sind aufschlußreich, wenn sie auch offensichtlich nur auf jeweils einem Gespräch beruhen. Alle haben ihr eigenes Anliegen an den Hitler, den sie gefunden zu haben meinen. Die Frage, ob man noch an Gott glauben darf oder kann nach dem Holocaust, schwebt aber bei allen im Raum.

Die meisten von Rosenbaums Gesprächspartnern sind Juden. Er liefert damit den deutschen Lesern einen seltenen Einblick in die Befindlichkeiten dieser jüdischen Gelehrten.

Rosenbaum selbst wendet sich gegen die Beurteilung Hitlers „als kulturelles Produkt und nicht als Subjekt (un)moralischen Handelns“. Er weigert sich, ihn aus der Verantwortung für den Holocaust zu entlassen. Die Einbeziehung des Umfeldes mit einer „Exkulpation“ Hitlers gleichzusetzen, wie er es tut, ist jedoch zu undifferenziert. Selbst Daniel Goldhagen wollte mit seinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ die Schuld am Holocaust ausweiten und nicht etwa von Hitler nehmen, im Gegensatz zu dem britischen Historiker David Irving, den Rosenbaum auch zu Wort kommen läßt. Irving will Hitler klar entlasten, steht damit aber völlig außerhalb der seriösen Forschung.

Die Basis der Hitler-Betrachtungen, die Rosenbaum vorstellt, lautet: „Er wollte es.“ Bei vielen Hitler-Deutern sieht er die Verzweiflung im Vordergrund; nicht „die Verzweiflung an der Beweislage, sondern eine tiefe, erkenntnistheoretische Vergeblichkeit. [...] Menschliche Schlechtigkeit [...], [deren] Bedeutung wir nicht in der Psychologie, sondern in der Theologie suchen müssen“, wie der Theologe Emil Fackenheim es tut.

Andere, wie den in Jerusalem lehrenden Historiker Yehuda Bauer, führte die Erforschung dieser Schlechtigkeit weg von Gott. So wird Adolf Hitler quasi zum Prüfstein für den persönlichen Umgang mit dem Glauben.

Rosenbaum hat sich auf den englischsprachigen Raum der Hitler-Biographen und Deuter beschränkt. Wo er sich dennoch an deutsche Quellen begibt, wird es schwammig. Geradezu rührend bricht er eine Lanze für die Journalisten der Münchner Post, deren teilweise karikaturistische Kampagnen gegen Adolf Hitler und seine Partei er als mutig und unvergleichlich vorausschauend beschreibt. 1933 war es damit natürlich vorbei.

Allerdings gab es in der Weimarer Republik eine weitaus größere Zahl an Journalisten und Autoren, als Rosenbaum annimmt, die Hitler bloßstellten. Er wurde oft gerade deshalb nicht ernst genug genommen, weil man ihn gern verunglimpfte und sich zum Beispiel über die fehlende Konformität seines Äußeren mit seinen eigenen Rassenidealen mokierte.

Es ist bedauerlich, daß Rosenbaum Joachim Fests in Teilen ebenfalls sehr persönliche Auseinandersetzung mit Hitler nicht mit einbezieht, aber es wäre ohnehin zuviel für ein bereits überfrachtetes Buch gewesen, auch noch einen Vergleich zwischen nichtdeutschen Juden und nichtjüdischen Deutschen in der Annäherung an Hitler zu wagen.

Ian Kershaw, der bereits seit 1989 an seiner, im ersten Teil bereits vorliegenden unaufgeregten Hitler-Biographie arbeitet, hätte allerdings Wichtiges beizutragen, denn er läutet nicht nur einen Generationenwechsel in der Geschichtsforschung über Hitler ein, sondern auch einen Paradigmenwechsel: Adolf Hitler ist in der heutigen Welt der nachgefolgten Greueltaten zwar weiterhin der Verbrecher des Jahrhunderts, aber er dient nicht mehr allein der Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Bösen. Hitler kann heute nicht mehr ohne seinen zeitgenössischen Kontext betrachtet werden.

Am Anfang von „Explaining Hitler“ (so der Originaltitel) wie am Ende der Suche nach dem „wahren Hitler“ steht Primo Levi, der bedeutendste Augenzeuge des Holocaust. Levi erzählt in seinen Erinnerungen an Auschwitz „Ist das ein Mensch?“, wie ihm ein SS- Offizier verbietet, seinen Durst an einem Eiszapfen zu löschen. Levi fragt den deutschen Offizier: „Warum?“ Der Offizier antwortet so lakonisch wie wahrheitsgemäß: „Hier gibt es kein Warum.“

Ron Rosenbaum: „Die Hitler- Debatte. Auf der Suche nach dem Ursprung des Bösen“. Europa Verlag, 1999, 672 Seiten, 68 DM