Small is beautiful

Vom Rauschen der Blätter: Die diesjährigen Wittener Tage für neue Kammermusik blieben nicht in der Kammer  ■   Von Björn Gottstein

Die zeitgenössische Musik hat in den letzten zwanzig Jahren eine entscheidende Wende vollzogen. Im Zentrum steht nicht mehr die Form, sondern die Geste. Etabliert hat sich nunmehr eine Schreibweise, die das musikalisch Sinnliche in den Vordergrund rückt. Kaum verwunderlich, daß auch die diesjährigen 31. Wittener Tage für neue Kammermusik vermehrt solche Werke zutage förderten, deren Gesamtverlauf als beiläufig entstanden gelten darf.

Bezeichnenderweise waren es die Aufführungen in kleiner und kleinster Besetzung, die diesen Ansatz am besten umzusetzen vermochten. Da das Prinzip der Transformation dem Festival diesmal als Leitmotiv galt, gab es einige Werke gleich in mehrfacher Fassung zu hören. Und auch hier sorgten die ärmer ausgerüsteten Versionen regelmäßig für den eindringlicheren Vortrag. Das Konzert des späten Freitagabends demonstrierte den Vorzug kleiner Instrumentarien: Brian Ferneyhoughs „Unsichtbare Farben“, von Violinist Irvine Arditti technisch wie optisch überwältigend uraufgeführt, markierte hier den Höhepunkt. Denn das hohe Maß an Komplexität ließ einen rationalisierenden Nachvollzug erst gar nicht zu, sondern machte statt dessen jeden von Ton zu Ton zerrissenen Parameter als neue Ausdrucksqualität kennlich.

Es war aber der 1954 in der Schweiz geborene Beat Furrer, dem die letztlich überragende Synthese gelang. In der Uraufführung seines Werks „Aria“ durch das ensemble recherche zersetzte die Sopranistin Petra Hoffmann die Textvorlage des Schriftstellers Günter Eich, um sie in das gleichermaßende atmende wie undurchhörbare Dickicht der Musik einzuschlagen. Um so deutlicher trat das refrainähnliche Moment eines wiederholten Streichercrescendos hervor, bis Sängerin und Klarinettistin, allmählich von der Bühne tretend, das Stück zu seinem grandios überspannten Ende führen.

Dort wo Komponisten formale Aspekte in den Vordergrund rückten, entwickelte sich hingegen ein oft sprödes Gesamtbild. Nicht unbedingt enttäuschend die Resultate, aber durchaus „altmodisch“ – eine Vokabel, die einem zum Beispiel zu Philippe Hurels „Pour Luigi“ einfallen konnte. Indem Hurel die Stimmen der fünf Instrumente weitgehend synchronisierte, erschienen die jederzeit gegenwärtigen Differenztöne und rhythmischen Abweichungen als füllendes Nebenprodukt.

Um die Kammermusik nicht zu sehr auf die Kammer zu beschränken, lockte man in Witten außerdem mit Installationen und Performances in die ehemalige Zeche und Ziegelei Nachtigall. Der Name versprach leider mehr Idylle, als er einlöste, und die im industriellen Ambiente angesiedelten Klangkunstwerke litten unter nachlässiger Inszenierung. Allein Cathy Millikens Installation „Ausschnitt: Lungen“ erzeugte dramatisch erhöhte Spannung: Akustisch verstärkte Wassertropfen, Ziegelreiben und Blätterrauschen verwandelten das Dach der Wittener Ziegelei in ein gespenstiges Refugium.

Wie schon früher erwies sich das Wittener Festival auch diesmal mit achtzehn Uraufführungen und erstklassigen Ensembles und Solisten als das neben Donaueschingen wohl führende Forum zeitgenössischer Musik. Am Samstag abend ehrte das ensemble recherche den künstlerischen Leiter Harry Vogt in seinem zehnten Jahr mit einem Überraschungskonzert und vierzehn ihm gewidmeten Miniaturen. Das verstärkte das Gefühl der Familiarität; eine Familiarität, die nach außen freilich immer auch als verschworen esoterische Abschottung einer Fachszene wirkt.