Der ungeklärte Tod eines Weihbischofs

Vor einem Jahr wurde Juan Gerardi, einer der prominentesten Verfechter der Menschenrechte in Guatemala, in seiner Garage erschlagen. Seither wird erfolglos ermittelt. Zeugen erhalten Todesdrohungen  ■ Aus Guatemala-Stadt
Toni Keppeler

Nachts um halb elf ist die Zone 1 in Guatemala-Stadt für gewöhnlich so gut wie ausgestorben. Die einzigen Menschen, die man um diese Zeit noch antrifft, sind obdachlose Bettler, die sich in Hauseingängen vor der Kälte schützen. Und die Wachen der Präsidentengarde vor dem Nationalpalast. Vielleicht kommt ab und zu ein Taxi vorbei. Ansonsten geht nur die Angst um. Die Angst vor Überfällen und Entführungen. Im Zentrum von Guatemala-Stadt sind solche Straftaten besonders häufig.

In der Nacht des 26. April 1998 waren vor dem Pfarrhaus der San-Sebastian-Gemeinde, nur wenige Häuserblocks vom Nationalpalast entfernt, mehr Menschen unterwegs als in sonstigen Nächten. Zwei Bettler übernachteten im nahen Park, ein Taxifahrer döste hinterm Steuer und wartete, daß ihn ein Funkspruch aus der Zentrale zu irgendeinem verängstigten Bürger schicke, der um die Zeit noch nach Hause wollte.

Zwei weitere Autos standen im Dunkeln. In einem saß ein einziger Mann. Die Nummer des Wagens – 3201 – ist auf das Verteidigungsministerium zugelassen. Im anderen Auto drängten sich fünf mit Gewehren bewaffnete Männer. Beide Autos waren schon Stunden zuvor in diesem Häuserblock gesehen worden.

Kurz vor halb elf kam Juan Gerardi, der 75jährige Weihbischof des Erzbistums von Guatemala-Stadt, wie fast jeden Sonntag von einem Abendessen bei seiner Schwester zurück. Nur wenig später kam ein Mann mit nacktem Oberkörper aus der Garage des Pfarrhauses. Er rannte zum Auto des Verteidigungsministeriums und stieg ein. Der Mann am Steuer fuhr los. Zusammen mit diesem Wagen verschwand auch der mit den fünf Bewaffneten.

Etwa zwei Stunden später war wieder Bewegung in der Straße. Zwei als Fotografen verkleidete Mitglieder der Präsidentengarde kamen vorbei, die Polizei, Militärs und eilends verständigte Kirchenvertreter.

Weihbischof Gerardi war in der Garage des Pfarrhauses San Sebastian erschlagen worden. Mindestens elfmal hat der Mörder mit einem Betonklotz auf den Kopf des Geistlichen eingeschlagen, stellte ein erster Obduktionsbericht später fest.

Der Täter war Rechtshänder und höchstens zehn Zentimeter kleiner als der 1,85 Meter große Gerardi. Das Gesicht des Opfers war völlig entstellt. Gehirnmasse war aus dem mehrfach gebrochenen Schädel getreten. Der Priester Mario Orantes, der mit Gerardi im selben Pfarrhaus wohnte und die Bluttat nach eigenen Angaben etwa eineinhalb Stunden später entdeckt haben will, sagt, er habe den Toten nur noch am Bischofsring an der Hand erkannt. Fotos vom Tatort legen nahe, daß die Leiche ursprünglich nicht dort gelegen hatte, wo sie von der Polizei aufgefunden wurde. Auf diesen Bildern sind Blutspuren zu sehen, die darauf hinweisen, daß der Körper quer durch die Garage gezerrt wurde. Doch eine Spurensicherung fand nicht statt.

Im Gegenteil. Orantes behauptet, ein Militär habe ihn und die Hausangestellte Margarita Lopez angewiesen, den Tatort gründlich zu reinigen. Was sie auch taten.

Ronalth Ochaeta, der Leiter des Menschenrechtsbüros des Erzbistums von Guatemala-Stadt, sprach von Anfang an von einem „politisch motivierten Verbrechen“ und suchte die Täter in rechtsradikalen Militärzirkeln. Solch eine Vermutung lag auf der Hand. Ochaeta hatte drei Jahre gemeinsam mit Gerardi an dem Projekt „Rettung der historischen Erinnerung“ gearbeitet. Es ging darum, die Menschenrechtsverletzungen des guatemaltekischen Bürgerkriegs (1962 bis 1996) zu dokumentieren. Zwei Tage vor dem Mord hatte Gerardi in der Hauptstadt-Kathedrale den vierbändigen Abschlußbericht mit dem Titel „Guatemala – Nie wieder!“ der Öffentlichkeit vorgestellt.

Mehr als achtzig Prozent der darin aufgeführten 55.000 Menschenrechtsverletzungen werden der Armee und den von ihnen kontrollierten paramilitärischen Gruppen angelastet. Doch Innenminister Rodolfo Mendoza nannte Ochaetas Vermutungen „gefährliche und unbegründete Spekulationen“. Er sprach von einem „gewöhnlichen Verbrechen“.

Mit den Ermittlungen wurde Staatsanwalt Otto Ardon betraut, ein früherer Rechtsberater des Verteidigungsministeriums. Er folgte der Linie des Justizministers und ließ vier Tage nach dem Mord den 24jährigen Carlos Enrique Vielman als „Hauptverdächtigen“ festnehmen. Angeblich war er von Passanten erkannt worden, die in der Zeitung ein von der Polizei gefertigtes Phantombild gesehen hatten. Die Theorie vom „gewöhnlichen Verbrechen“ schien damit bestätigt. Denn Vielman, ein notorischer Alkoholiker, hat ein langes Vorstrafenregister, von Körperverletzung bis hin zur sexuellen Nötigung.

Auch Ochaeta stutzte zunächst. Denn es wäre nicht das erste Mal gewesen, daß Todesschwadronen ihre Handlanger im kriminellen Milieu rekrutiert hätten.

Doch die Sache mit Vielman hatte mehr als nur einen Haken. Zum einen hat er, wie über sechzig Prozent der guatemaltekischen Bevölkerung und wie der Mann auf dem Phantombild, indigene Gesichtszüge. Kein knallharter Beweis also. Zum anderen ist er nur knapp 1,60 Meter groß und hat einen verkrüppelten rechten Arm. Und schließlich hatte er auch noch ein Alibi: Er hat sich in der Tatnacht zusammen mit zwei Kumpels in einer Spelunke sinnlos betrunken – Kilometer entfernt vom Pfarrhaus San Sebastian.

Die Kneipenwirtin sagt, sie habe gegen Mitternacht ihr Lokal geschlossen. Vielman und seine Freunde hätten davor tief geschlafen. Als sie am nächsten Morgen wiederkam, hätten die drei immer noch friedlich dort gelegen.

Doch Vielman, ein armer Schlucker, hatte nur einen Pflichtverteidiger und blieb deshalb in Haft. Zwischendurch wurde, um der Theorie von „Landstreichern und Drogenabhängigen“ Genüge zu tun, bei einer Drogenrazzia noch ein zweiter „Verdächtiger“ verhaftet.

Doch der hatte Geld und einen besseren Anwalt und kam schnell wieder frei. Vielman aber mußte drei Monate brummen. So viel Zeit läßt das guatemaltekische Gesetz der Staatsanwaltschaft, um formale Anklage zu erheben.

Vielmans Dreimonatsfrist war fast abgelaufen, da wurden die Ermittler erneut fündig. Am Morgen des 22. Juli 1998 riegelten mehrere Hundertschaften von Polizei und Armee die Gegend rund um das Pfarrhaus von San Sebastian ab. Als Pfarrer Orantes zurück in seine Wohnung wollte, sich bei einem der Polizisten auswies und fragte, was denn da los sei, wurde er verhaftet. Er war der neue „Verdächtige“. Angeblich, so die Staatsanwaltschaft jetzt, handelte es sich bei dem Mord an Gerardi um ein „Verbrechen aus Leidenschaft“.

Schnell kursierten Gerüchte in der Stadt. Der 75jährige Gerardi und der 39jährige Orantes hätten ein Verhältnis mit derselben Frau gehabt. Oder gar eines miteinander.

Staatsanwalt Ardon präsentierte auch einen „Beweis“: Er hatte dem spanischen Gerichtsmediziner José Manuel Reverte Fotos von der Leiche Gerardis geschickt. Der hatte darauf Spuren von Hundebissen entdeckt. Orantes ist Besitzer eines deutschen Schäferhunds mit dem Namen „Baloo“.

Wieder stutzte die katholische Kirche. In einer ersten Stellungnahme hielt Erzbischof Prospero Penados eine Tatbeteiligung des Priesters für möglich und forderte eine lückenlose Aufklärung des Verbrechens. Später beantragte er eine Exhumierung der Leiche und eine zweite Obduktion. Bei der ersten Autopsie nämlich waren keinem der Beteiligten Hundebisse aufgefallen.

Zur zweiten Autopsie wurde Reverte aus Spanien eingeflogen. Zudem nahmen vier guatemaltekische und drei US-amerikanische Gerichtsmediziner daran teil, darunter Spezialisten für Hundebisse. Als es darum ging, den Abschlußbericht zu erstellen, gerieten die Kollegen lautstark aneinander. Die vier Guatemalteken und die drei US-Amerikaner hatten an der Leiche keine Hundebisse gefunden. Doch Reverte bestand auf seiner Entdeckung.

Der Mann hat seine Geschichte. Fünf Jahre zuvor war er von der Wahrheitskommission im benachbarten El Salvador entlassen worden, weil ihm die Liebe zur Armee über die Liebe zum Beruf gegangen war. Bei der Untersuchung des Massakers in dem Dorf El Mozote, bei dem eine Spezialeinheit der salvadorianischen Armee rund tausend Zivilisten ermordet hatte, wollte Reverte die Militärs bis um den Preis der Lächerlichkeit entlasten. Selbst eine Epidemie hielt er als Ursache des Massentods für möglich. Nur kein Massaker.

Angesichts solch hanebüchener Ermittlungen stellten Ochaeta und sein Menschenrechtsbüro eigene Untersuchungen an. Sie fanden den Taxifahrer, der Neffe eines früheren Verteidigungsministers ist, und sie fanden auch die beiden Bettler, die in der Tatnacht vor dem Pfarrhaus übernachteten. Die Geschichten, die die drei erzählten, stimmen überein. Alles weist auf Militärs hin. Und doch nehmen langjährige Mitarbeiter von Gerardi, die ihre Namen lieber nicht lesen wollen, dem Priester Orantes seine völlige Ahnungslosigkeit nicht ab.

Denn Orantes ist ein Mann, der direkt aus der Psychostudie „Kleriker“ des Kirchenkritikers Eugen Drewermann entsprungen sein könnte: Fettleibig und astmatisch, ein manischer Internet-Surfer und ein autoritärer Halter seines Hunds. Jeder im Menschenrechtsbüro glaubt zu wissen, daß Orantes homosexuell ist. Mehrere Mitarbeiter bestätigen, er habe Beziehungen mit Soldaten gehabt.

Orantes behauptet, er habe zur Tatzeit geschlafen und deshalb nichts gehört und gesehen. Doch im Register seines Internet-Providers ist verzeichnet, daß sein Computer zu dieser Zeit am Netz hing. Kann man im Internet surfen und nicht mitbekommen, wie in der Garage ein Mann erschlagen wird?

Orantes wurde am 17. Februar dieses Jahres „aus Mangel an Beweisen“ aus der Untersuchungshaft entlassen. Zum Jahreswechsel waren sowohl der Staatsanwalt als auch der Untersuchungsrichter ausgetauscht worden. Das neue Duo wollte erstmals ein politisches Verbrechen nicht ausschließen. Doch Untersuchungsrichter Henry Monroy hielt nicht lange durch. Am 24. März trat er von seinem Amt zurück, weil er und seine Familie mehrfach mit dem Tod bedroht worden waren.

Auch ein Zeuge, der Taxifahrer, bekam Todesdrohungen. Das Menschenrechtsbüro des Erzbistums brachte ihn sicherheitshalber außer Landes. Und zuletzt traf es Ronalth Ochaeta. Am 16. April, zehn Tage vor dem ersten Todestag Gerardis, drangen drei Männer mit Pistolen in seine Wohnung ein. Sie bedrohten seinen vierjährigen Sohn und seine Hausangestellte. Vierzig Minuten lang durchwühlten sie die Wohnung, dann gingen sie wieder. Sie ließen eine Schachtel zurück. Darin lag ein Betonklotz. Die Staatsanwaltschaft versprach eine „lückenlose Aufklärung“ dieser Todesdrohung.