Sylvia will zu Bertelsmann

Je höher die Arbeitslosenquote, desto mehr gerät die fachliche Qualifikation bei Stellenbesetzungen zur Nebensache. Berufserfahrung ist wichtig, Persönlichkeit alles. Glauben zumindest die KandidatInnen, die in Führungspositionen drängen und sich bereitwillig auf dubiose Eignungstests vorbereiten. Wenn es am Ende dann doch nicht klappt mit der Lizenz zum Führen, mit dem höheren Job, liegt es ganz bestimmt nicht an der Arbeitsmarktpolitik  ■ Von Peter Kessen

Die High Potential hebt sich ab, mit blauem Kostüm und blondem Bop, vom Rosé des Hotelzimmers im neunten Stock des Berliner „Estrel“. Sylvia Ritterbusch hat sich für eine große „Karrieremesse“ qualifiziert: 25 Jahre, Einserdiplom in Psychologie mit Schwerpunkt Personalmanagement. Sie gehört zu den auserwählten neunhundert von fünftausend Interessierten, die sich 55 Großunternehmen präsentieren. Sylvia hat Rezepte für Bewerbungsfotos, die bei Unternehmensberatern „supergut“ ankommen: „So selbstbewußt gepost – Arme in die Hüften!“

So läuft er, der Ausstieg aus der „klassischen Bielefelder Arbeiterschicht“, zu der ihr Vater gehört. Move on up! Obwohl Sylvia eine „gesamtgesellschaftlich kranke Entwicklung“ diagnostiziert, die bei Freunden Überstundenburnout entfacht. „Ich muß das bis dreißig mitmachen, um mir einen Namen zu machen.“ Eine Neoyuppiette ist sie nicht, eher ein funktionalneoliberaler Borderlinecharakter. „Soziale Kompetenz“ erlaubt der High Potential, das konkret auszuhalten, was sie theoretisch als Problem erkennt. Sylvia will zu Bertelsmann.

1994 befragte das Forschungsinstitut Globus repräsentativ ausgewählte Unternehmen: Mit 37 Prozent firmierte das Urteil „ungeeignete Persönlichkeit“ als Hauptargument bei Ablehnungen. „Flexiblere Arbeitsstrukturen lassen die Bedeutung der Persönlichkeit auf mindestens fünfzig Prozent steigen“, erklärt Klaus Rödiger, der zusammen mit seiner Frau Sigrid die älteste Personalberatung Berlins betreibt.

Personalfragebögen, Vorstellungsgespräche, Tests von Intelligenz, Leistungsbereitschaft und Persönlichkeit sollen Soft Skills ermitteln, wie Kommunikationsfähigkeit oder Teamgeist. Mit zweifelhaften Ergebnissen. Dokumentationen der Testpraxis finden sich bei den Berliner Psychologen Reinhard Schrader und Jürgen Hesse, den versiertesten Testkritikern Deutschlands. In diversen Büchern haben sie die gängigen Verfahren analysiert. Ergebnis: Viele der Tests entsprechen nicht dem Standard der Wissenschaft. Bei diesen Eignungstests, so die Autoren, handelt es sich eher um „Anpassungsüberprüfungen“ mit „sadistischen Ritualen“. Die von Hesse und Schrader publizierten Erlebnisberichte aus Assessment Centern (AC) stützen dieses Urteil. Über 150 Großunternehmen suchen in Deutschland mit solchen Einschätzungstests ihre Führungskräfte. Dazu gehören Gruppendiskussionen, Rollenspiele, Vorträge, Postkorbübungen, Interviews sowie Präsentations- und Intelligenztests.

Als „Banalität des Bösen im Alltag“ charakterisieren die Sozialwissenschaftler Ain Kompa und Oswald Neuberger von der Uni Augsburg diese Tests der „Gesamtpersönlichkeit“: „Eine Prüfung soll die berufliche Laufbahn voraussagen. Ohne Zuordnung zu spezifischen Stellen. Die Sache wird zurückgeführt auf Führungskraftstereotypen, entsprechend allgemein sind die gesuchten Eigenschaften.“

Diese Erfahrungen hat Sylvia auch gemacht, für den Bereich „Change Management“ mußte sie in einem AC berufsferne „Bilanzsummenauswertungen“ abliefern: „Da war ich sauer. Man kann doch nicht für alle Jobs das gleiche Verfahren nehmen. Das ist sinnlos und unfair.“ Und irrational. Denn die Tests erfüllen nicht den Anspruch an Objektivität, den sie vorgeben. Der amerikanische Psychologe C. G. Russell hat seit Mitte der achtziger Jahre die Beurteilungskriterien typischer ACs innerhalb großer amerikanischer Firmen untersucht und festgestellt, „daß Beobachter in einem Verfahren einen Kandidaten als gut einschätzen und in einem anderen als schlecht – auf demselben Merkmal.“

Personalauswähler scheinen die „Lizenz zum Führen“ zudem nur dem sozial- resistenten Egomanen zu bewilligen, der in Postkorbübungen seinen Hyperindividualismus beweist: „Sie sind von einer Dienstreise zurückgekehrt. Es ist 16 Uhr dreißig. Keiner ist zu Hause. Um 19 Uhr geht ihr Flug nach Wladiwostok. Sie haben eine Stunde Zeit, fünfzehn Aufgaben zu erledigen: Die Ehefrau liegt im Krankenhaus...“

Das AC als „Tour de Force der Topasozialen“ mit seinen „führerlosen Gruppendiskussionen“ fordert eben keine soziale Kompetenz, wie das populäre Networking. Es offenbart nach Neuberger das Schizoide des Wirtschaftsführertums. „Diese Konkurrenzsituation fordert Einzelkämpfer. Das ist eines der Dilemmata: Gesucht wird jemand, der ganz nach oben kommen möchte, der aber partizipativ mit anderen zusammenarbeiten muß. Ungelöste Widersprüche, die man nur bewältigen kann, wenn man abstrakte Eigenschaften konstruiert.“ Die Funktion liegt in der symbolischen Selbstlegitimation einer Elite, die per semirationalem Verfahren „Gesinnungskooptation“ gewährleistet.

Und dieses Verfahren muß Sylvia erst noch bestehen. Aber das Gespräch mit Gerd Stürzebecher, 38 Jahre, bei Bertelsmann verantwortlich für zentrale Managemententwicklung, ist „super gelaufen“. Gefragt waren „potentialstarke Persönlichkeiten“. Aufgabe: eine von „fünf persönlichen Eigenschaften“ auswählen. Sylvia sah sich als „Weltenbummler“ – und provozierte kritische Nachfragen. „Ob das nicht auch mangelnde Zielorientierung bedeutet?“ Schließlich sucht der Personalentwickler „Führungspotential“, das die Bewerberin jenseits des „Fachlichen“ verortet: „Es gab Teilnehmer, die Umsatzzahlen gelernt haben. Das war nicht gefragt. Es ging darum, ob die Person ins Unternehmen paßt.“

Diesen Karriereidealismus hat eine Studie des Münchner Diplom-Psychologen Ronald Kreuscher konterkariert: Zweihundert repräsentative Unternehmen erklärten, wie 1996 aus 21.588 Bewerbungen die 322 Einstellungen hervorgingen. Die „Personalitysichtung“ entpuppte sich als arbeitsanalytisches Nirvana: „Personalauswähler reden im Grunde nur über die ,Person'. Sie landen bei vagen Eigenschaftsbegriffen.“ Nur 6,5 Prozent der Unternehmen hatten die Tätigkeit analysiert. So erblüht die Lyrik der neoliberalen Adjektivketten aus einem Vakuum. 95 Prozent der Verfahren besaßen kaum überprüfbare Qualitätskriterien. Die Personalauswahl in Deutschland charakterisiert Kreuscher als groteskes Schützenfest: „Das ist wie der Versuch, die Besten zu bekommen, indem mit Schrot jeder weggeschossen wird, der meist nicht nachgewiesene Merkmale für zukünftige Mißerfolge vermuten läßt.“

Zum Personalityroulette im Casinokapitalismus hat Neuberger folgendes ermittelt: Innerhalb von Firmen existieren gegensätzliche Bewertungsstereotypen – vom Foto bis zur Studiendauer. „Ist ein zügiges Studium besser als ein längeres mit breiteren Interessen? In einer Firma widersprechen sich Auswähler diametral.“ Psychologe Kreuscher fordert eine „gültige Punktzahlrangreihe“ durch Gleichbehandlung der Bewerbungen. Die Charakterauguren sollen soziale Praxis lernen: „Stichwort: ,Kommunikativität'. Hier sollte gefragt werden, welche Art der Kommunikation mit welchen Menschen gewollt ist.“

Vielleicht ist Herr Kreuscher auch nur der Don Quichote des Personalmanagements. Denn die Irrationalität der Menschensichtung hat für den neoliberalen Kapitalismus eine Funktionalität, die sich aus Überbautradition speist. Was Klaus Rödiger noch persönlich erfahren hat. Rödiger wirkt mit seiner Frau Sigrid seit achtzehn Jahren als Personalberater in Berlin, zum Beispiel für Mannesmann.

„Ich war Bundeswehroffizier. Und vieles in der Industrie kommt aus dem Wehrbereich. Auch diese Tests, die besonders durch das Dritte Reich in ein ganz schiefes Licht gekommen sind. Eine große Zahl der Manager der Nachkriegszeit waren ehemalige Offiziere. In meiner ersten Zeit im Personalwesen eines großen süddeutschen Unternehmens stand diese Lektüre im Bücherschrank. Man versuchte, aus der Physiognomie und rassenkundlicher Literatur Rückschlüsse zu ziehen auf die Persönlichkeit.“ Stabile Charaktereigenschaften sollen militärische Funktionalität gewährleisten. Die Wehrmachtspsychologie entwickelte im Ersten Weltkrieg die „Heerespsychotechnik“. In der Weimarer Republik kamen „führerlose Gruppendiskussion“ und Charaktertests dazu. Ziel war ein „hochqualifiziertes Führerheer“, das den schnellen Aufbau einer Charaktertruppe ermöglichte.

Der militärische Diskurs will den Menschen als Ding. „Psychotechnik geht davon aus, Menschen könnten vermessen werden. Damit werden ihnen eindeutige, stabile Materialeigenschaften zugesprochen, die über ihre Verwendung bestimmen“, charakterisiert Professor Neuberger einen wissenschaftlichen Anachronismus, der heute noch über Biographien entscheidet.

Wie über die von Sylvia. Vier Monate nach der „Karrieremesse“ beginnt sie ihren ersten Job – bei einer Kölner Personalberatung. Nicht bei Bertelsmann. „Nach sechs Wochen ist ein Brief gekommen: Leider können wir Ihnen, ihren Qualifikationen entsprechend, keine Möglichkeit anbieten.“ Sie hat vergeblich versucht zu erfahren, was nicht stimmte. Vielleicht war es die Selbstcharakterisierung als Weltenbummlerin? „Ich denke, jede Firma wird sich's im Endeffekt so drehen, wie sie's braucht.“

Vielleicht lernt Sylvia noch, eine wirklich perfekte Persönlichkeit zu sein. Eine neoliberale Unternehmerin ihrer selbst, die im drohenden Burnout dank schlanker Strukturen nur die Pflicht sieht, das „Kapital der Individualität“ cleverer zu verwerten. Karriere ist eben Krise. Wenn der Kapitalismus durch Krisen funktioniert – dann ist die „geeignete Persönlichkeit“ nur eine permanente Krise disziplinierender Existenzangst. Der Angst, eine ungeeignete Persönlichkeit zu sein.

Peter Kessen, 36, ist Kommunikationswissenschaftler und Rundfunkjournalist. Er lebt in Berlin