Der Deutschen kostbarstes Gut

Die Deutschen haben auch unter demokratischen Verhältnissen gut malocht. Das Glück hat sich trotzdem nicht eingestellt. Dazu hat sich das Arbeiten selbst zu stark verändert. Nach Automation und Produktionsverdichtung ist Arbeit knapp geworden – und damit wertvoll. War sie in den Aufbaujahren Verpflichtung, muß sie heute auch für Lebenssinn sorgen. Wer zuviel freie Zeit hat, gilt als verdächtig. Teil XV der Serie „50 Jahre neues Deutschland“  ■ von Barbara Dribbusch

Immer wieder appellierte er an seine Landsleute. „Die Sucht, weniger zu arbeiten, und die Versuchung, weniger arbeiten zu wollen, ist ein Schritt ins Verderben“, tönte Ludwig Erhard 1966. „Wir sind drauf und dran, ein Ärgernis zu werden, nicht weil wir zuviel, sondern weil wir zuwenig arbeiten.“

Der damalige Bundeskanzler selbst ging nicht mit gutem Beispiel voran. Der Spiegel zählte genüßlich auf, daß Erhard keine wichtige Fußballübertragung im Fernsehen verpasse, gerne selbst den bundesdeutschen Vergnügungen „Fußball, Federbett und Ferien“ fröne und nicht das Ohr am „Herz des Volkes“, sondern lieber „an der Matratze“ habe.

Rührend klingen solche Streitereien über die deutsche Arbeitsethik heute, da Sozialpolitiker die Teilzeitarbeit fördern und über jeden froh sind, der sich ohne staatliche Alimentierung vom Jobmarkt zurückzieht. Die Arbeit ist nicht mehr das, was sie mal war. Aber was ist sie dann? Jedenfalls etwas anderes als nur eine lästige Pflicht, so die Erkenntnis nach fünfzig Jahren Maloche.

Wäre sie nur eine Last, so hätte sich für die Bundesdeutschen in den vergangenen Jahrzehnten ein Menschheitstraum erfüllen müssen. Die Automation machte es möglich: Immer weniger Menschen sind nötig, um immer mehr zu produzieren. Während in den fünfziger Jahren noch 35 Arbeitsstunden nötig waren, um einen VW-Käfer zu montieren, brauchen die VW-Werker heute nur noch vierzehn Arbeitsstunden, um einen VW-Polo an der computergesteuerten Fertigungsanlage zusammenzubauen.

Die Steigerung der Produktivität war am beeindruckendsten in der Landwirtschaft, wo heute einige wenige Leiharbeitskräfte mit ihren Maschinen die Felder einer ganzen Region beackern können. Aber auch in der Industrie, im Einzelhandel, in computervernetzten Verwaltungen kletterten die Produktivitätsraten steil nach oben.

Die Deutschen haben gut gearbeitet in den vergangenen Jahrzehnten. Zu gut. Denn mit der Automation kam nicht das Glück, sondern die Massenarbeitslosigkeit. Die Automation machte nicht nur viele Arbeitsstunden, sondern damit auch gleich die Menschen überflüssig. Seit Beginn der achtziger Jahre schnellten die Arbeitslosenquoten nach oben, immer mehr Frauen wollten einen Job, die Wiedervereinigung mit der früheren DDR sorgte schließlich für den entscheidenden Schub an Stellensuchenden. „Das wichtigste politische Thema ist die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit“, sagt Bundeskanzler Gerhard Schröder. So, als stünde Deutschland wieder vor einem Neuanfang. Wie 1950, als die Arbeitslosenquote in der Bundesrepublik bei elf Prozent lag.

Dabei sah alles nach einer Erfolgsstory mit Happy-End aus. In den fünfziger Jahren schafften die Arbeitnehmer noch 48 Stunden an sechs Tagen in der Woche, heute ackern die Westdeutschen im Schnitt nur noch 38 Stunden. 1960 hatten die Beschäftigen im Schnitt nur einen Urlaubsanspruch von siebzehn Tagen, heute sind es sechs Wochen.

Auch materiell ging es aufwärts. Das Durchschnittseinkommen eines Arbeitnehmers im Jahre 1960 lag nach heutigem (!) Kaufwert bei etwa 1.300 Mark netto im Monat. Das ist kaum mehr als der Standard eines Sozialhilfeempfängers. Vor knapp vierzig Jahren hatten nur wenige Bundesbürger ein Auto; die Kinderkleidung wurde vom Bruder der Schwester vererbt; Kino- und Restaurantbesuche waren dem ersten Rendezvous und Festtagen vorbehalten.

Heute bringen Westarbeitnehmer im Schnitt rund 2.800 Mark netto nach Hause. Wer weniger zum Ausgeben hat, fühlt sich ausgeschlossen. Jeder Familie ihr Auto, oft auch zwei. Mit dem Einkommen steigen auch die Ansprüche: Auch deshalb ist es nichts geworden mit dem Paradies in der Bundesrepublik.

Die Arbeit geht heute weniger an die Muskeln, sondern mehr an die Nerven. Nostalgisch mutet heute an, wie die Arbeiter eines Hüttenwerkes Anfang der fünfziger Jahre den Angestellten ihren Job neideten: „Die Angestellten müssen erst um 7.30 Uhr im Werk sein und haben keine Nachtschicht. Das ist schon sehr wesentlich. Sie brauchen nicht bei allen Witterungsverhältnissen draußen zu sein. Sie bleiben ständig bei der gleichen Arbeit und wissen auch, was sie am nächsten Tag zu tun haben. Wenn es zu heiß ist, macht der Angestellte das Fenster auf, wenn es kalt wird, macht er die Heizung an.“

Heute arbeiten die meisten bei Zimmertemperatur: Längst bilden die Angestellten den größten Teil der Beschäftigten, der Dienstleistungssektor ist expandiert, die gewerbliche Wirtschaft hingegen geschrumpft. Die lauten, schmutzigen, heißen und kalten Arbeitsplätze sind vielerorts verschwunden – und mit ihnen die alten Klagen über inhumane Arbeitsbedingungen. Wer beklagt noch die „Entfremdung“ des Arbeiters, redet noch von der Arbeitsteilung am Fließband, von der Trennung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, die den Menschen innerlich zerstückele?

Als Audi vor wenigen Jahren die neue Gruppenarbeit einführte, verlangte der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrates von Audi, daß die „Kreativität des einzelnen wieder genutzt wird“. In Gruppen von sechs bis acht Leuten montieren die Audi- Facharbeiter die Autos und überwachen sich dabei gegenseitig. Regelmäßig setzen sie sich zusammen, um gemeinsam den „kontinuierlichen Verbesserungsprozeß“ (KVP) in der Produktion zu diskutieren, mit dem irgendwann auch mal der eigene Job wegrationalisiert wird. Die Werker hätten „das Prinzip der Gruppenarbeit voll geschnallt“, lobte ein Audi-Betriebsrat. Druck von oben durch den Chef ist nicht mehr nötig, der des Teams und die Angst um den Job erledigen das von allein.

Die Sorge, keinen Job zu finden, treibt die Jungen mehr um als alles andere, so ergab die jüngste Shell- Studie. Das war früher anders, in der Wirtschaftswunderzeit der sechziger Jahre, als die Arbeitspflicht immer wieder von oben angemahnt wurde. Und es war anders im Jahrzehnt darauf, als in Deutschland die Freizeitgesellschaft entstand.

1970 hatte sich in den meisten Branchen die 40-Stunden-Woche durchgesetzt. Seitdem sank die durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Bundesbürger noch einmal auf 38 Stunden. Der Kampf um die 35-Stunden-Woche in den achtziger Jahren war der letzte symbolische Kampf um Freiheit durch Freizeit.

Die Zeitgeistforscherin Elisabeth Noelle-Neumann war schon Mitte der siebziger Jahre aufgrund von Umfragen zu dem Schluß gekommen, daß die Deutschen zunehmend innere Distanz zur Erwerbsarbeit empfinden.

Gerade bei den Jüngeren gewönnen Familie, Partnerschaft und Freizeit an Bedeutung gegenüber der Arbeit, argwöhnten Noelle-Neumann und andere. Den Deutschen ginge es halt zu gut, so das moralische Resümee. Selbst Kanzler Helmut Kohl, immer etwas der Zeit hinterher, beklagte noch in den neunziger Jahren den „Freizeitpark Deutschland“. Aber die Diagnose des Werteverfalls griff immer zu kurz. In Wirklichkeit hatten die Menschen die Begriffe von „Arbeit“ und „Freizeit“ heimlich erweitert.

Ende der achtziger Jahre stellte der Soziologe Karl Martin Bolte fest, der Begriff „Arbeit“ werde zunehmend vom Erwerb gelöst und „auf eine Fülle von anderen Betätigungen“ übertragen. Damit schwand die negative Konnotation von Arbeit als Pflicht. Vieles, was früher als Freizeit galt, wurde plötzlich zu freiwilliger „Arbeit“: die Turnerei im Fitneßstudio (“und jetzt arbeiten wir noch ein bißchen am Bauch“), die Partnergespräche am Küchentisch (“deine Eifersucht mußt du bearbeiten“), die Heimwerkerei am Hochbett.

Das hieß aber nicht, daß die eigentliche Erwerbsarbeit tatsächlich an Bedeutung verloren hatte. Im Gegenteil: Die Erwerbsarbeit war immer die Basis des Freizeitgedankens. Als seit Beginn der achtziger Jahre und vor allem nach der Wiedervereinigung plötzlich akuter Jobmangel herrschte, wollte sich niemand freiwillig in die Freizeit abschieben lassen.

Auf „Teilzeitkampagnen“ der Sozialpolitik Norbert Blüms ist kaum einer eingestiegen. Wer weiß denn, was passiert, wenn man erst einmal mit einem Bein draußen ist? Vielmehr stieg die Teilzeitarbeit an, weil immer mehr Frauen in den Jobmarkt drängten.

„Geht doch arbeiten!“ hatten die Passanten den jungen Demonstranten in den späten sechziger und siebziger Jahren noch zugebellt. Doch heute ist arbeiten auch für die Jungen sexy. Kaum ein Student fährt heute noch zum Langzeitaufenthalt nach Goa wie in den siebziger Jahren, heute dockt man lieber in den Semesterferien mit einem Praktikum bei einer ausländischen Firma an. Werbefachleute und Internetexperten kommen in Stoßzeiten locker auf sechzig Arbeitsstunden in der Woche, seit zehn Jahren gibt es auch in Deutschland eine Diskussion über Arbeitssucht und die workaholics.

Und erst seit den vielen Forschungen über depressive Langzeitarbeitslose aus den neunziger Jahren wissen alle, wie toll es doch ist, einen Job zu haben. Alle Versuche einer von oben angeschobenen Arbeitsumverteilung scheiterten. Die Viertagewoche bei VW, eingeführt im Winter 1993/94, ist abgeschafft und wurde anderswo gar nicht erst eingeführt. Über weitere Arbeitszeitverkürzung und –umverteilung wird kaum noch diskutiert, bemerkenswerterweise auch unter einer rot-grünen Regierung nicht. 1998 ist die individuelle Jahresarbeitszeit sogar gestiegen, auch aufgrund der niedrigeren Krankenstände und der vielen Überstunden. Der Rentenbeginn wird nach hinten verschoben.

Arbeit ist sexy – für jene, die daran glauben. Denn die alte Klassengesellschaft schichtet sich um. In High-Tech-Spezialisten, deren Existenzgründungen von der Wirtschaftspresse gefeiert werden. In unkündbare Beamte, die gegen jede Kürzung ihrer Pensionen protestieren. In ungelernte Pommesverkäufer, die oft Nachkommen der Immigranten aus den sechziger Jahren sind. Und in Menschen aus Ostdeutschland, die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen stecken und kaum eine Zukunft mehr haben.

Arbeit kann beschissen sein – doch wer sich ausklinkt, ist verdächtig. Die Politiker beschwören heute wieder die „Arbeitspflicht“ für die Langzeitarbeitslosen, und sie zerbrechen sich die Köpfe darüber, ob man sie mit einem „Niedriglohnsektor“ wieder in Jobs zwingen könnte. Ludwig Erhard sagte: „Wir müssen uns entweder bescheiden oder mehr arbeiten.“

Die Deutschen bescheiden sich nicht und ackern weiter. Arbeit in der Bundesrepublik hatte immer auch etwas Nostalgisches.

Barbara Dribbusch, 42, taz-Autorin mit den Schwerpunkten Arbeit, Macht & Liebe, nimmt sich öfters in der Woche frei – nicht allein der zwei Kinder wegen