Die sichere Kernschmelze

Ignalina in Litauen, eines der marodesten Atomkraftwerke der Welt. Die EU will es abschalten, die Bewohner fürchten nichts mehr als die Arbeitslosigkeit  ■   Aus Ignalina Gabriele Lesser

„Wir haben Angst. Alle hier. Die ganze Stadt.“ Die Stimme Laima Stanienes' bebt. „Ich bin vor 15 Jahren aus Sibirien nach Litauen gekommen. Wenn sie jetzt das Atomkraftwerk dichtmachen, wo soll ich dann hin? Ich spreche doch kein Litauisch. Und zurück nach Rußland gehe ich auf keinen Fall. Ignalina muß bleiben!“

Die Chefredakteurin der Gewerkschaftszeitung in Litauens einzigem Atomkraftwerk könnte auch auf den Champs Elysseé Furore machen – elegant gekleidet, perfekt geschminkt.

Doch auf dem Weg zur Arbeit steigt die knapp 40jährige nicht in die Metro, sondern in einen klapprigen Bus, der die schnurgerade und mit Schlaglöchern übersäte Straße nur ächzend bewältigt. Wie immer fällt ihr Blick an der Endstation auf die beiden rotweiß gestreiften Schornsteine. Sie sind das Wahrzeichen von Ignalina, einem der größten Atomkraftwerke Europas. Die Kuppel fehlt, und das macht den „Tschernobyl-Typ“ so gefährlich: Im Falle eines Unfalls hält kein Schutzmantel die radioaktive Strahlung zurück.

Im Informationszentrum des AKW muß die Gewerkschafterin ein paar Papiere abholen. Eine Schulklasse sieht sich gerade den Film über den „ökologisch saubersten Strom“ an. Die Kamera schwenkt über saftiggrüne Wiesen und silbrig glitzernde Hochspannungsleitungen, über den „Naturschutzpark Ignalina“ hin zu einer Stadt, in der bei Einbruch der Nacht die erleuchteten Fenster aufstrahlen wie funkelnde Sterne.

Daß der größte See Litauens, der Druksiai-See, direkt hinter dem Atomkraftwerk liegt und sich längst in eine gigantische Kloake verwandelt hat, in die nicht nur alle Abwässer der Stadt Visaginas fließen, sondern auch das heiße Kühlwasser aus dem Atomkraftwerk, erfahren die Kinder nicht.

Einer der Sicherheitsinspektoren des AKW erklärt, warum niemand Angst vor einem Unfall haben muß: „Wir haben jetzt Vorschriften, an die wir uns halten. Das Wichtigste sind die Vorschriften. Wenn jeder nach Vorschrift arbeitet, kann nichts passieren.“

Eines der Kinder bleibt skeptisch: „Und wenn doch ein Fehler passiert?“

Der Inspektor lächelt überlegen: „Dann leuchtet eine Lampe auf, und wir reparieren den Fehler.“

Unerbittlich fragt das Kind weiter: „Und wenn keine Lampe aufleuchtet?“

Der Sicherheitsexperte bleibt gelassen: „Dann müssen wir alle Mitarbeiter fragen, ob sie die Vorschriften eingehalten haben. Wenn ja, gibt es keinen Fehler.“

An einem bunten und beweglichen Schaukasten zeigt eine Mitarbeiterin des Informationszentrums, wie die beiden Siedewasserreaktoren des Typs RBMK funktionieren. Dann deutet sie auf ein großformatiges Foto mit vielen Computern und blinkenden Lämpchen: „Das ist der Kontrollraum. Hier arbeiten nur Männer. Die Arbeit ist so verantwortungsvoll, daß sie auch rauchen dürfen, um nicht einzuschlafen. Es wird ihnen alles gebracht, was sie nur wollen, jeder hat ein eigenes Telefon auf dem Schreibtisch. Sie arbeiten ohne Pause acht Stunden durch.“

Das vorwitzige Kind weiß wieder alles besser: „Aber in der Pause könnten sie doch schnell mal frische Luft schnappen.“ Statt einer Antwort bekommt das Mädchen ein Malheft mit Atomkraftwerken und glücklichen Kindern in die Hand gedrückt. Daß die Kinder im ukrainischen Tschernobyl auch einmal an den „sicheren Atomstrom“ geglaubt haben, sagt niemand.

Seit dem Unfall dort 1986 ist kein einziger der 16 Hochrisikoreaktoren in Osteuropa abgeschaltet worden. Ignalina, dem in einer Sicherheitsanalyse von internationalen Atomenergieexperten 73 Sicherheitsmängel nachgewiesen wurde, gehört zu den gefährlichsten der Welt.

Kaum ein anderes Atomkraftwerk hat in den letzten Jahren so viele Schlagzeilen gemacht wie Ignalina: wegen schwerer Störfälle, Bombendrohungen und „ungeplanter“ Abgabe von Radioaktivität mußte das AKW immer wieder kurzfristig abgeschaltet werden.

Im Gewerkschaftsbüro bullert die Heizung auf Hochtouren, alle Fenster stehen offen. Draußen liegt auch Mitte April noch Schnee. Stolz hält Laima Staniene die Rabotschaja Tribuna (Tribüne der Arbeit) hoch: „Ich mache sie ganz alleine. Und obwohl es in Ignalina vier Gewerkschaften gibt, ich aber nur für die Arbeiterunion des Atomkraftwerks Ignalina schreibe, lesen doch fast alle meine Zeitung. Eines der Hauptthemen ist natürlich immer wieder die mögliche Schließung von Ignalina.“ Sie setzt sich ans offene Fenster: „Wir haben Angst. Ob Ignalina geschlossen wird oder weiterarbeitet, entscheiden die Politiker in Vilnius. Außerdem irgend jemand in Brüssel. An uns denkt dabei niemand.“

Im Atomkraftwerk arbeiten rund 5.100 Menschen, die meisten sind vor Jahren aus Rußland gekommen und sprechen bis heute kein Litauisch. Ignalina hatte mit insgesamt vier Reaktoren die ganze Region mit Strom versorgen sollen. Der erste Reaktor ging 1983 ans Netz, der zweite 1987.

Neben dem dritten steht heute noch ein Kran. Die litauische Unabhängigkeitsbewegung hatte nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gegen denWeiterbau protestiert, in Moskau hatte man Wichtigeres zu tun, als sich mit Atomkraftgegnern in Litauen zu beschäftigen, und so steht der halbfertige Reaktor wie ein Menetekel sowjetischer Energiepolitik an Litauens größtem See.

Laima Staniene lebt wie alle Mitarbeiter des Atomkraftwerks im sechs Kilometer entfernten Visaginas. Es ist die jüngste Stadt Litauens. Sie entstand vor 18 Jahren mit der Grundsteinlegung für Ignalina. Heute leben hier knapp 33.000 Menschen. Alle reden Russisch. Das strenge Sprachengesetz Litauens, das von jedem Angestellten die Beherrschung der litauischen Sprache verlangt, gilt in Visaginas nicht. „Wenn die Politiker Ignalina schließen, wird eine ganze Stadt arbeitslos.“ Die gelernte Ingenieurin und Betriebssoziologin seufzt: „Ich habe vor kurze meine erste Litauischprüfung bestanden, aber diese Sprache ist so schwer ... – vielleicht werde ich sie irgendwann sprechen können, aber schreiben? Und wo soll ich arbeiten, wenn ich nicht Litauisch schreiben kann?“ Sie schlägt die Beine übereinander, ihr Blick fällt auf die eleganten Pumps: „Es kommt noch etwas hinzu: Wir verdienen hier alle überdurchschnittlich gut. Visaginas ist eine reiche Stadt. Der Lebensstandard ist hoch. Unsere Kinder sind an einen gewissen Luxus gewöhnt. Wenn Ignalina schließt, geht hier möglicherweise eine soziale Bombe hoch. Die Angst jedenfalls hat uns alle gepackt.“

Für die Argumente von Atomkraftgegnern wie Linas Vainius von der Grünen Bewegung Litauens hat Laima Staniene nicht viel übrig. „Wie gefährlich Ignalina tatsächlich ist, können die Ingenieure, die hier seit Jahren arbeiten, ja wohl am besten beurteilen. Außerdem wurde Ignalina in den letzten Jahren mit Hunderten von Millionen Dollar auf westlichen Sicherheitsstandard gebracht. Ignalina ist heute kein Tschernobyl-Typ mehr.“

Linas Vainius ist da ganz anderer Meinung: „Man kann Millionen und Abermillionen von Dollar für Sicherheitsstudien und Nachrüstungen ausgeben – die äußere Reaktorhülle fehlt und kann nicht nachträglich auf den Reaktor draufgesetzt werden.“ Es gebe auch kein zweites unabhängiges Abschaltsystem. Da in Ignalina die Gefahr von Überhitzung bestehe, dürften die beiden Reaktoren nicht mit voller Kraft arbeiten. „Da nutzen auch die neu eingebauten feuerfesten Türen und die Sprinkleranlagen nicht viel. Das ist Sicherheitskosmetik, kein ,westlicher Standard‘!“

Linas Vainius hofft einerseits auf die Europäische Kommission, die vom EU-Beitrittskandidaten Litauen die Abschaltung der Hochrisikoreaktoren von Ignalina fordert, doch er wirft ihr auch eine verfehlte Energiepolitik in Osteuropa vor. Statt Unsummen in Sicherheitsstudien für Atomkraftwerke zu stecken, die ohnehin nicht nachgerüstet werden können, hätte die EU das Geld besser für die Erschließung alternativer Energiequellen ausgeben sollten, für den Ausbau vorhandener konventioneller Kraftwerke, für Energiesparmaßnahmen, gegebenenfalls auch für kurzfristige Stromimporte. So habe sich Litauen zwar 1994 verpflichtet, das Atomkraftwerk Ignalina nur so lange zu betreiben, bis ein Auswechseln der sogenannten Druckröhren notwendig werde, doch die ständigen Verbesserungen im Sicherheitsbereich hätten die Politiker überzeugt, daß Ignalina nun auf westlichem Sicherheitsstandard sei.

Weshalb also sollte das Land, das über 80 Prozent seiner Energie aus Ignalina beziehe, das Atomkraftwerk abschalten? „Die EU hat uns nie gesagt, in welcher Form und in welchem Ausmaß sie Litauen helfen wird, wenn Ignalina vom Netz geht“, wirft auch der Umweltschützer Lainius den EU-Kommissaren vor.

„Die EU plant einen Soziozid an der Bevölkerung Ostlitauens“, donnert der Bürgermeister von Visaginas. Algirdas Kavaliauskas hat da so seine eigenen Vorstellungen: „Nach den schweren Korruptionsvorwürfen gegen Vertreter der Europäischen Kommission ist für uns klar, daß die Forderung, Ignalina zu schließen, ein schändlicher Kuhhandel gewissenloser Beamter, Politiker und Unternehmer ist.“

Für den Bürgermeister steht zweifelsfrei fest: „Ignalina ist heute so sicher wie die sichersten Atomkraftwerke im Westen. Es geht um Geld, um viel Geld. Der hier produzierte Strom ist billig. Der Westen hat Angst vor der Konkurrenz aus dem Osten. Jetzt stellt uns Brüssel das Ultimatum: Entweder tritt Litauen der EU bei, oder es betreibt das Atomkraftwerk Ignalina weiter.“ Algirdas Kavaliauskas atmet schwer, rote Flekken wandern vom Hals ins Gesicht: „Etwa 85 Prozent der Bevölkerung von Visaginas stammen aus der ehemaligen Sowjetunion. Diese Menschen haben keinen sozialen Rückhalt in Litauen. Und da sie hochspezialisiert sind, finden sie so schnell keine neue Arbeit. Mit einem Schlag wäre die ganze Stadt ein Armenhaus.“

Zwar ist dem Bürgermeister klar, daß Ignalina, wenn nicht in zwei oder fünf Jahren, dann spätestens in fünfzehn bis zwanzig Jahren schließen muß, da das AKW nicht länger betrieben werden kann. Doch das ist dann nicht mehr sein Problem. Er jedenfalls werde keine Vorsorgemaßnahmen treffen, keinen Plan ausarbeiten, keine Gewerbebetriebe nach Visaginas locken: „Wir lassen uns nicht erpressen. Litauen ist ein souveräner Staat.“ Und dann sagt er noch: „Eher verzichten wir auf den EU-Beitritt.“