Kopfabguß und Geistesadel

Alles eine Frage der Ordnung: Das Dresdener Hygienemuseum zeigt Entwürfe vom „Neuen Menschen“  ■   Von Volker Weidermann

Schon am Eröffnungsabend hatten es einige Ameisen geschafft: Sie verließen ihren in einem kunstvoll gestalteten italienischen Futurismusbau untergebrachten Ameisenhaufen im Ausstellungsraum „Fabrik“ und machten sich auf den Weg in Richtung „Kosmos“. Das war so nicht geplant. Eine Paraffinschicht am oberen Glasrand ihres Terrariums sollte den Ausstellungsgegenstand „Ameisenstaat“ eigentlich vollständig an Ort und Stelle festhalten – zur Demonstration eines perfekt organisierten Mikrokosmos, den sich eine auf rationalisierte Lebens- und Arbeitsformen ausgerichtete Menschheit einst zum Vorbild genommen hatte. Doch die Ameisen hatten anderes im Sinn: Als Zweckmäßigkeitsdemonstranten engagiert, machten sie sich auf eine uns recht zweckfrei erscheinende Reise.

Sonst war aber alles sehr gut organisiert in der Ausstellung „Der Neue Mensch“ im Dresdener Hygienemuseum. Ordnung, so weiß man nach Durchlaufen der Ausstellungsräume, war immer das erste Prinzip, wenn es darum ging, den „Neuen Menschen“ zu entwerfen. Die Voraussetzungen dafür wurden schon im späten 18. Jahrhundert geschaffen, als der Mensch begann, seine Spezies zu inventarisieren, nach Kriterien zu sortieren und zu bewerten.

Der erste, der die Menschen nach seinem Sinne unterschied, war der Physiognomiker Johann Caspar Lavater, der behauptete, von der Form des Kopfes und der Gesichtspartien auf den Charakter schließen zu können. „Das Archiv“, der Prolog-Raum der Ausstellung, zeigt Lavaters „Mundstudien“ mit Mundbildern eines deutschen Staatsministers („feine Leichtigkeit, Ruhe“), eines englischen Prinzen („elend die Unterlippe“) und eines russischen Generals („trockene, vernünftige Ruhe und Entschlossenheit“).

Lavaters Schlußfolgerungen waren umstritten, aber der Unterscheidungs-, Archivierungs- und Bestimmungstrieb der Menschen war geweckt. „Das Archiv“ ist voll mit den unterschiedlichsten Sammlungen: Die Handabgüsse des Mediziners Carl Gustav Carus etwa, der die Theorie einer vierstufigen menschlichen Handhierarchie entwickelte und Genie für wissenschftlich erfaßbar hielt, verschiedene Kopfabgüsse, anhand derer man Geistesschlichtheit („Kupferstecher Stecher, geistesschwach“) oder Geistesadel (Kant!) erkennen sollte. Der Anatom Johann Friedrich Blumenbach hatte fünf Rassetypen der Weltbevölkerung ausgemacht, die er idealtypisch und, ohne sie hierarchisch zu werten, unterschied. Andere glaubten, aus bestimmten Kopfformen verstärkten Geschlechtstrieb oder musisches Vermögen herauslesen zu können. Der Berliner Mediziner Rudolf Virchow ließ sich aus der ganzen Welt menschliche Abnormitäten liefern, um sie im Dienste der Volksgesundheit in seinem anthropologischen Gruselkabinett um sich zu versammeln. Und auch Regierungsstellen entdeckten das Glück der Menschenordnung für sich. Man schwärmte vom „Gesetz der großen Zahl“, und die Ausstellung zeigt Auswertungen von Erhebungen über die Häufigkeit von blauen Augen, blonden Haaren und weißer Haut in Bayern, anhand derer Zweifel eines französischen Zoologen zerstreut werden sollten, der behauptet hatte, Preußen und Bayern gehörten verschiedenen Rassen an. Der Angriff wurde mit den Mitteln der Statistik erfolgreich abgewehrt.

Das alles sind Vorspiele, harmlose meist, staunend suchende und entdeckende, die die Masse Mensch erstmals nach scheinbar wissenschaftlichen Kriterien zu unterscheiden versuchten, Hierarchien behaupteten, die dem einzelnen einen Platz anwiesen und eine höhere Ordnung hinter den Dingen sichtbar zu machen schienen, die auf eine noch verborgene höchste Ordnung hoffen ließ. Eine Ordnung, die im 20. Jahrhundert mit den furchtbaren Konsequenzen immer wieder entdeckt werden sollte. Der schummrig erleuchtete, vom Ausstellungsarchitekten Martin Kohlbauer mit gläsernen Vitrinen in Irrgartenform angelegte Archivraum läßt vieles davon ahnen.

Der nächste Raum, der „Garten“, verbindet bereits das bedrohliche mit dem harmlosen Ordnungselement: Es geht um die Naturanbetung der Lebensreformer, der Wandervögel und ähnlicher Reformbewegungen, die um die Jahrhundertwende entstanden. Es wird an die erste Ökosiedlung erinnert, die 1893 vom Lebensreformer Bruno Wilhelmi in seinem Berliner Vegetarischen Speisehaus proklamiert wurde: Man zog vor die Tore der Stadt, nach Oranienburg, pflanzte an, baute auf, nahm neue Mitglieder nur auf, wenn sie Vegetarier waren, verkaufte das Fleischersatzpodukt „Gesunde Kraft“ und nannte sich in schönstem Naturgottvertrauen „Siedlung Eden“. Der neue Mensch als ein Zurückfinder zu sich selbst und seinen Wurzeln.

Ein der „Siedlung Eden“ irgendwie verwandtes Projekt wurde einige Jahre früher in Paraguay gegründet. Bernhard Förster, ein wegen antisemitischer Hetze vom Dienst suspendierter Lehrer, machte sich zusammen mit seiner Frau, der Philosophenschwester Elisabeth Förster-Nietzsche, in Richtung Südamerika auf, um sich dort ganz dem Bau der Siedlung „Nueva Germania“ und der „Lösung der nationalen Kulturfrage“ zu widmen. Da das neue Musterland jedoch in einem Sumpfgebiet gelegen war, litten viele Auswanderer nach kürzester Zeit unter schwersten Erkrankungen. Eine Tatsache, die Nietzsches Schwester froh als „Reinigungsprozeß von den Rückständen der Zivilisation“ besang. Nachfolger der Siedler wohnen noch heute dort, auch wenn das Gründerpaar – Förster erschoß sich aus Geldnot, Elisabeth pflegte daheim ihren großen Bruder – ihr „Neues Deutschland“ und dessen neue, „gereinigte“ Bewohner schon bald im Stich ließen.

Neuformungen des Menschen im Dienste des Guten und immer Besseren: Die Ordnungen, in die sich der Mensch zum Zwecke seiner Neuerschaffung einband, wurden mit der Zeit immer rigoroser, die Grenzen immer enger und die Möglichkeiten des einzelnen, sich zu entziehen, immer geringer. Die Ausstellung läuft mit großer Konsequenz auf ihren vorletzten Raum „Das Lager“ zu, der im Untertitel „Die endgültige Ordnung des Menschen“ heißt.

In direkter Folge von Menschenzüchtungsversuchen nach dem Vorbild Pawlowscher Hunde, manipulierbarer Schimpansen und perfekt organisierter Armeen von Waldameisen, findet der Terror der Einordnungen, Verordnungen und Unterordnungen mit unglaublicher Geschwindigkeit in den Lagern des Nationalsozialismus und des Sowjetkommunismus seinen bekannten Höhepunkt, hier in einem hell leuchtenden, in der Mitte leeren, nur mit wenigen schlagenden Dokumenten ausgestatteten Raum dargestellt. Ein Endpunkt.

Doch die Ausstellungsmacher um die Kuratorin Nicola Lepp wollten so nicht enden. Das Projekt vom Neuen Menschen geht doch weiter, in einem freieren und individuelleren Sinne, so die Botschaft des letzten Raumes, der „Matrix“, der eine Galerie von neuesten Menschen und neuesten Industrieprodukten vorstellt. Die erste Barbiepuppe, Wolle vom ersten geklonten Schaf, der erste Farbfernseher. Und: die erste Gleichstellungsbeauftragte, der erste Astronaut, der erste Hacker, der erste Surfer, Umweltaktivist, Zivildienstleistende.

Und die Lager? Die terroristischen Menschheitsordnungskonzepte von heute, auf dem Balkan und anderswo? Er ist sehr optimistisch gestaltet, der letzte Raum, und will sich nicht recht ins Ausstellungskonzept fügen. Eine beleuchtete Flugzeugstartbahn (oder ist eine Landebahn?) in der Mitte des Raumes weist den Weg in die allerneueste Zukunft, zum allerneuesten Menschen. Am Ende und Fluchtpunkt dieser Strecke leuchtet das Nachrichtenband einer Videoinstallation von Bill Viola, auf dem ständig die neuesten Tickermeldungen einlaufen. In diesen Tagen sind das unentwegt Vertreibungs- und Bombardierungsnachrichten. Im Raum hinter dem Textband sieht man drei Menschen beim Schlaf: Beim Erholungsschlaf? Beim Schlaf der Gleichgültigkeit? Eine Hoffnung ist beides nicht. Und auch die Ameisen sind vom Putzteam inzwischen hinweggefegt worden.