Hooligan gesteht Lust an Mißhandlung

Am ersten Verhandlungstag gegen die mutmaßlichen Täter von Lens räumt einer der vier Angeklagten ein, auf den französischen Polizisten Nivel eingetreten zu haben. Die Anklage lautet auf versuchten Mord    ■ Aus Essen Gisa Funck

Bleich sehen sie aus, im Gerichtssaal 101 des Essener Landgerichts, sehr bleich und sehr artig zurechtgemacht. Mit ihren gebügelten Hemden, ihrem gestriegelten Haar, dem gesenkten Blick wirken die vier Angeklagten zwischen 23 und 31 Jahren harmlos wie beschämte Jungs nach einem Kaufhausklau. Hier aber geht es nicht um ein Bagatellvergehen. Hier geht es um versuchten Mord.

Andre Zawacki, Tobias Reifschläger, Frank Renger und Christopher Rauch sollen Hooligans mit Killergelüsten sein, fähig dazu, einen bewußtlosen Mann bestialisch zu Tode zu prügeln. Der Mann heißt Daniel Nivel, war Gendarm und hatte das Pech, im letzten Juni nach dem Spiel Deutschland gegen Jugoslawien im nordfranzösischen Lens Dienst zu tun.

Eine Rotte frustrierter deutscher Fußballfans hatte Nivel in einer Seitengasse zu Boden geschlagen. Als der Gendarm betäubt und ohne seinen Helm auf der Straße lag, sollen Renger und Reifschläger „aus Lust an der Mißhandlung“ mit ihren Schuhabsätzen gegen seinen Kopf getreten haben. Rauch und Zawacki hätten sogar noch schlimmer gewütet. Mit einem Holzschild und einem Gewehraufsatz sollen sie auf den Schädel des völlig wehrlosen Mannes eingedroschen haben. Wie durch ein Wunder hat Nivel diese Mißhandlungen zwar überlebt. Er wird jedoch bis an sein Lebensende an Spätfolgen leiden. Erst nach sechs Wochen erwachte der Polizist aus dem Koma: das rechte Auge blind, der rechte Arm gelähmt und mit einer Sprachbehinderung.

Ruhig verliest Staatsanwalt Joachim Lichtinghagen seine Version des Tathergangs. Nebenkläger Harald Wostry, der Daniel Nivel im Prozeß vertritt, nickt dazu. Im proppenvollen Zuschauerraum herrscht gebannte Erwartung. Ein Handy klingelt. „Zawacki ist auf jeden Fall aus Gelsenkirchen“, nuschelt ein Reporter aufgeregt in den Hörer.

Der Prozeß gegen die mutmaßlichen Täter von Lens ist seit Wochen ein Medienspektakel. Männer, die plötzlich zu Bestien werden, bringen Schlagzeilen und heben die Auflage. Das weiß auch der Vorsitzende Richter Rudolf Esders. Presserummel ist er gewohnt. Vor Jahren hat er am Essener Landgericht bereits das Gladbecker Geiseldrama verhandelt.

Heute liegt es vor allem an seiner souverän-geduldigen Art, die Angeklagten zu befragen, die dem ersten Verhandlungstag schnell die angespannte Atmosphäre nimmt. Unaufgefordert rattern Zawacki, Renger und Reifschläger zunächst Entschuldigungsfloskeln herunter, die wie auswendig gelernt klingen und alle mit dem Satz beginnen, daß ihnen „die Sache in Lens furchtbar leid“ tue. Allein Christopher Rauch, yuppiegleich im Maßanzug erschienen, spart sich ein Wort des Bedauerns.

Schließlich ist nur Tobias Reifschläger von den vier Angeklagten zu einer Aussage bereit. Der 24jährige Bürokaufmann aus Hamburg besitzt das längste Vorstrafenregister von allen. Sein größter Coup: Waffenhandel. Als Bundeswehrrekrut hat Reifschläger einst 14 Maschinenpistolen gestohlen und verkauft. Eingerahmt von seinen beiden Verteidigern Axel Nagler und Eberhard Haberkern, deklamiert er einen einstudierten Monolog. Erstmals gibt Reifschläger darin zu, Nivel getreten zu haben. In zwei vorhergehendenVernehmungen hatte er noch jede Gewalttat bestritten.

Nun räumt der junge Mann mit dem blonden Bürstenhaarschnitt stockend ein, daß er sich zweimal habe „hinreißen lassen“, in die Beine und in den Rücken den Gendarmen gekickt zu haben. Von Tritten gegen Kopf und Brust aber will er auch weiterhin nichts wissen. Dennoch ist sein Teilgeständnis die Überraschung des Tages.

Als Richter Esders dem Angeklagten darauf ein auf Leinwand vergrößertes Foto vorhält, auf dem Reifschläger eindeutig erkennbar seinen Fuß gegen Nivels Brustkorb richtet, deutet dieser die Geste verblüffend harmlos. „Da bin ich gerade über ihn rübergesprungen“, erklärt er lapidar. Einer der anderen Hooligans habe ihn am T-Shirt gezogen, er habe das Gleichgewicht verloren und über den liegenden Gendarmen hinwegspringen müssen. Danach sei er mit den anderen Fans vor der heranstürmenden Polizei geflohen.

Wer denn der Mann gewesen sei, der ihn am Shirt fortgerissen habe, will Esders wissen. Und ob auch andere Umstehende auf den Polizisten eingeschlagen hätten? Reifschläger will oder kann sich nicht erinnern. Nach eigener Aussage hatte er zu diesem Zeitpunkt zwei Nächte kaum geschlafen und neben Whiskey und Pernod „mindestens acht bis zehn halbe Liter Bier“ getrunken. „Ich bin mitgelaufen, weil alle gelaufen sind. Es ging ja alles so schnell“, murmelt er hilflos und beteuert am Schluß: „Was ich hier sage, ist wahr!“ Aus Angst habe er bisher gelogen, aus Angst, in Untersuchungshaft genommen zu werden. Doch was wahr und was unwahr ist im Fall Nivel, wird auch in den nächsten 28 Verhandlungstagen schwer herauszufinden sein.