Kleiner Willi aus Waggon vier

■ Einen Abend lang lasen KünstlerInnen in der Berliner Humboldt-Universität gegen den Krieg

Der grellerleuchtete Saal erinnert an den Tagungsraum jener wichtigen Nato-Kommission, der uns allabendlich durch die Kameras der „Tagesschau“-Reporter entgegenflackert. Nur ist dieser wahrscheinlich größer und jener frontal von einer Orgel geziert. Den billig kopierten Zetteln mit den großen schwarzen Lettern „Texte gegen den Krieg“ folgen schon früh viele Menschen. Der Dachverband des Bundes der Antifaschisten hatte am Dienstag abend in den Reutersaal der Berliner Humboldt-Universität zu einer öffentlichen Lesung gegen den Krieg in Jugoslawien gerufen, zahlreiche Künstlerinnen und Künstler waren eingeladen.

Eine Viertelstunde vor Veranstaltungsbeginn scheint der Saal aus allen Nähten zu platzen. Stühle werden herbeigeschafft und in die ohnehin engen Gänge gequetscht. Ein langhaariger Typ verteilt Flyer zur Großdemonstration gegen den Nato-Krieg am 8. Mai. „Helfen statt Bomben“, liest ein etwas dicklicher Herr vor. „Ich überlege, ob ich zu dieser Demonstration gehe“, erläutert der fast 70jährige Witwer genauer, „aber vorher will ich mal lauschen, ob sich meine Meinung auch in der Crème de la Kunst widerspiegelt.“

Der Raum wird indes immer voller, so daß sich sogar ein etwas schicker gekleideter Mann mit seinem gutgebügelten Anzug auf den Fußboden setzen muß. Eigentlich sollte der erste Künstler schon längst lesen, jedoch läßt es der anhaltende Menschenstrom nicht zu. Ein junger Medizinstudent reflektiert halblaut das Kommende: „Vieleicht spielen ja gerade Kunst und Literatur eine wichtige Rolle im Kriegsgeschehen! Ich meine, es würde mich schon interessieren, ob ein Schriftsteller durch die tagtäglichen Medienberichte zum Schreiben angeregt wird.“

Wie eine Antwort scheint da der erste Beitrag von Raimar Gilsenbach: „Als Schriftsteller und Journalist bekenne ich, meinen Berufsstand trifft besondere Schuld.“ Zehn Minuten hat jeder Künstler. Und zehn Minuten lang trägt der weißbärtige Schriftsteller ein Gebet vor, wie er seinen Beitrag selbst nennt. „Herr, es ist Krieg, und ich begehre, nicht schuld daran zu sein.“ Im Saal ist es sehr still. Lediglich das Kameraklicken einiger Bildjournalisten stört die entstandene Andacht. Am Weiß seiner Haare kann jeder im Raum sein ungefähres Alter ablesen. Es ist klar: Er ist Zeitzeuge des Zweiten Weltkrieges. Den Blick ab und an auf das Publikum gerichtet, vergleicht er seine Angst vor den Nato-Bomben mit der damaligen Furcht vor der in Polen einmarschierenden Wehrmacht.

„Du sollst nicht töten!“ Selbst den überzeugtesten Atheisten läßt das Fünfte Gebot an dieser Stelle nicht unberührt. Dem zögerlich, aber doch anhaltenden Applaus folgen leise, abgehackte Klavierklänge: „Immer freut es mich, in Reih und Glied zu stehen; endlich hat mein Leben einen Sinn!“ Während die Schauspielerin Simone Frost mit aggressiven Gesichtszügen die Zeilen monoton vorträgt, werden die Pianoklänge immer lauter und fröhlicher: „Den nächsten Krieg gewinnen wir! Der Krieg, der morgen kommen wird, wird anders als der Weltkrieg.“ Fast unerträglich laut hämmern die Töne durch den Saal: „Viel größer und brutaler!“

Klein dagegen ist „Willi aus Waggon vier“; gerade mal neunjährig, streift er barfuß durch das zertrümmerte Berlin. Als der inzwischen gewachsene Peter Abraham seine Kindheitserinnerungen aus dem gleichnamigen Buch zitiert, spiegelt sich in seinen Augen noch jene kindliche Naivität: „ ... weil dort so viele an Hungertyphus starben, bin ich einfach abgehauen; weil ich leben wollte, versteht ihr?“ Eine zierliche ältere Dame läßt den Kopf in ihre Hände sinken und schließt die Augen. „Die Treppenhäuser haben teilweise überlebt und führten ins Nichts“, liest Abraham. Wahrscheinlich streift auch sie in diesem Moment durch ihr Nachkriegsberlin. Niemandem fällt es schwer, jenen kleinen Peter Abraham bildlich vor sich zu sehen; lediglich das rauhe Knarren der gealterten Stimme holt einen zurück ins grelle Licht des Saals.

Erinnerungen, Bilder, Gerüche, Gefühle, Laute; Manfred Karnetzki von der Aktion Sühnezeichen beschreibt den blutroten Himmel über Dresden, der Schriftsteller Klaus Kordon läßt fassungslose Menschen vor brennenden Häuser Wirklichkeit werden, und die Schauspielerin Walfriede Schmitt tritt mit grellen Schreien symbolisch eine blaue Blume nieder. Die Muskeln einiger Zuhörer sind sichtlich angespannt, eine junge Frau beißt nervös und ständig auf ihre silberne Kette. Bis endlich einer kommt, der sich lokker auf die Tischkante setzt, verschmitzt ins Publikum schaut und einfach drauflosredet, als bekäme er es bezahltc: „Natürlich habe ich als deutscher Vater nur Söhne gezeugt!“ Erst Unsicherheit, dann doch zaghaftes Lachen. Der Kabarettist Martin Buchholz scheint ein lapidares Zwiegespräch mit dem Publikum zu führen und erzählt statistisch über die gestiegene Zahl von Wehrdienstverweigerern: „Die haben die Flinte schon vorher ins Popcorn geworfen.“ Erleichtert-lautes Lachen erfüllt nun den Raum. Jeder läßt sich dankbar involvieren, lauscht den witzigen Erinnerungen vom Onkel Friedrich, welcher sein Auge im Feld verloren hat, und schaut vergnügt auf den Kabarettisten, der so tut, als suche er das Auge auf dem Boden. Die Schusseligkeit des Onkels muß wohl der Auslöser der Redensart „Wo hast du denn bloß deineAugen?“ gewesen sein. Jeder kennt den Spruch, und es scheint, als ob der eigentliche Anlaß, Krieg, für einen kurzen Moment diesen Saal verläßt.

Die Schriftstellerin Daniela Dahn holt diesen sachlich-nüchtern wieder zurück. „Noch hat vor keinem Weltkrieg jemand geahnt, daß er beginnen wird.“ Ihre schmale Brille rutscht ihr fast von der Nase. Keiner will, und doch weiß es jeder besser: „Der Preis eines Krieges ist zu hoch; es zahlen ihn die Völker, deren Menschenrechte angeblich verteidigt werden!“ Vieles wurde an diesem Abend kunstvoll entblößt: die vermeintlich nüchterne Kriegsberichterstattung, die durch den Rüstungsbedarf steigenden Börsenkurse, der Preis eines einzigen Tarnkappenbombers, der inzwischen olivgrüne Regierungsteil. Am Ende blieb der Moderatorin lediglich festzuhalten: „Eine solche Veranstaltung werden wir leider wiederholen müssen.“

Katrin Cholotta

„Als Schriftsteller und Journalist bekenne ich hier, meinen Berufsstand trifft besondere Schuld“