Jedem Würger sein Lied

■ Zeitlos durchseufzte Juliette Greco die ausverkaufte Glocke - vom Alter unangetastet. Was ist nur mit der Zeit los?

Wie ein scheuer Vogel betritt Juliette Gréco die Bühne, Akkordeon, Gitarre und heftiger Applaus begleiten sie zum Mikrophon. Eine zarte Gestalt in Schwarz, schlicht und wunderschön. Schwarz sind auch die Augen, natürlich, und wenn sie die Arme hebt, zeigen sich Flügelärmel an ihrem Samtkleid. Ein dunkler Engel?

„Vivre – à nous offrir d'éspoir“ singt sie, und von mancher Hoffnung war wohl auch das Publikum in der vollbesetzten Glocke erfüllt. Doch es dauerte lange, bis die große Diseuse sich angemessen entfalten konnte. Eine Fotografin wurde verscheucht, hie und da gingen noch Türen auf, und es war vor allem die sie begleitende Band, die dazu beitrug, daß keine Atmosphäre der Geschlossenheit aufkam. Angestrengt wirkten Piano und Akkordeon, mühsam dümpelte das Schlagzeug vor sich hin, Gitarre und Baß versuchten, Schritt zu halten.

Schade, daß dies oft die Aufmerksamkeit von der Diva lenkte, doch die ließ sich von mangelnder Einfühlung nicht die Würde rauben. Immer noch fasziniert sie mit einer Mischung aus Fragilität und Entschlossenheit. Liebe, Leben, Verlust und Tod sind ihre Themen und wer könnte glaubwürdiger sein als diese reife Frau, die ohne Koketterie und Eitelkeit mit so eleganter Zurückhaltung alle Facetten der Leidenschaft zeigt?

Die Gréco wiegt sich, gurrt und rollt die Konsonanten zur Liebe am Nachmittag: „C'est trois heure moins le quart, que je préfere“. Mit jugendlicher Verve schmettert sie: „et je me jette dans ses bras, pendant que Michel travaille“, beschwört Erinnerungen, strahlt, lacht, hebt die Arme, ballt die Fäuste. Doch über aller Lust und Freude schwebt Vergänglichkeit. Brels „Brüssel“ und Gainsbourgs „Akkordéon“ klingen wie ein trauriges Lebenskarussell, das ihre tiefe Stimme nur noch tragischer scheinen läßt. Wer das Glück hat, vorn zu sitzen, sieht ein nuancenreiches Mienenspiel, Augenzwinkern und bebende Mundwinkel, doch auch die Schmerzen. „Les vieux amants, je vous aime encore“, singt sie und bedeckt das Gesicht mit den Händen, beendet viele Lieder mit tonlosen Gesten oder einem Seufzer.

Ihre größte Stärke liegt in der Interpretation des Unabänderlichen, der Fassungslosigkeit. „Un jour d'été“ von Jean-Claude Carrière und Gérard Jouaneste, ist einer der Höhepunkte. Sie erzählt von der dramatischen Begegnung mit einem Fremden am Strand, der soeben seine Frau erwürgt hat. Sein Flehen um Hilfe, seine Erscheinung stößt sie ab, nur von seinen blauen Augen ist sie fasziniert. Sie versagt sich die Versuchung, also gehen die blauen Augen ins Meer und verschmelzen mit dem Wasser. Mehr kann man nicht sagen über Liebe, Angst und Tod. Ihr stärkstes Stück zeigt es noch deutlicher: „J'arrive“. Singend bietet sie dem Tod die Stirn, krallt trotzig die Hände um das Mikro, verflucht Chrysanthemen, fleht um Aufschub: Warum ich, warum jetzt, ist es schon soweit? Jubel und Pfiffe für diese bravouröse Darbietung. Was alle denken, sagt sie nach endlosen Kußhänden und Verbeugungen dann selbst: „Ne me quitte pas“. Standing ovations. Almut Behl