Pfiffe für Psychoanalytiker Richter, Beifall für Gysi

■ Trotz Dauerregen kamen in Berlin rund 8.000 zu einer Antikriegskundgebung

Berlin (taz) – Regen, Regen und noch einmal Regen fällt auf die wenigen hundert Demonstranten, die sich um zwölf Uhr mittags auf dem tristen Berliner Parkplatz versammelt haben. An der Ecke Fritz-Riedel-/Cotheniusstraße hinter dem Velodrom liegen in Stapeln und haufenweise die an Latten befestigten Pappschilder der Gruppe „Linksruck“: „Nato raus aus dem Balkan“. Die Polizei kontrolliert Menschen und Taschen und registriert: „Bisher mehr Latten als Leute.“ Die drängen sich unter den kleinen Ahornbäumen am Rande des Platzes, in umliegenden Hauseingängen und unter den roten Regenschirmen der PDS. Der Stand der Sozialistischen Alternative (SAV) hat Zulauf. Er hat ein Regendach. Das Wasser strömt, die Menge tröpfelt. Am Ende sind es am Samstag um die 1.000 Demonstranten, die da in der Gewißheit naß werden, daß die Mehrheit der Bevölkerung im Osten Deutschlands gegen den Nato-Einsatz im Balkan sei. Ein Dutzend linke Splittergruppen sind dabei, EinzelkämpferInnen mit Pappschildern. Die Fahnenträger des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) sind im Prenzlauer Berg, im ehemaligen Osten Berlins, nicht bei allen gern gesehen.

Der ehemalige DDR-Oppositionelle Wolfgang Richter trifft die Befindlichkeit der Menschen: „Wir alle werden in eine Welt zurückgebombt, die wir hinter uns glaubten.“ Der Zug wächst auf seinem Weg zur Abschlußkundgebung am Gendarmenmarkt. An der Spitze marschiert ein triefender Dackel.

Zur parallelen Kundgebung am Nollendorfplatz im Westen Berlins waren rund 4.000 Menschen gekommen. An deren Spitze schritt der 76jährige Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter zum Gendarmenmarkt voran. Dort harrten dann 8.000 Menschen aus. Kirchen- und Friedensgruppen, Gewerkschafter, Grünen- und SPD-Oppositionelle, Autonome. Mütter, Kriegsdienstverweigerer, Studierende, Schüler waren dem Aufruf „Stoppt den Krieg! – Helfen statt Bomben!“ gefolgt und mischten sich unter dem bunten Dach eines Regenschirmwaldes. Der Nato-Einsatz, sagte Richter, bewirke „das Gegenteil dessen“, was er beabsichtigt habe. Er helfe niemandem und diene „der Brutalisierung“. Gerade die bundesdeutsche Rechtfertigung des Einsatzes mit der eigenen Geschichte, der Vernichtung der Juden, sei „eine ungeheure Geschichtsfälschung“. Er wandte sich aber auch dagegen, die Morde und Vertreibungen durch die jugoslawische Armee und Polizei „zu bagatellisieren“, denn auch das „wäre eine groteske, neue Art von Auschwitz-Lüge“. Richter diagnostizierte „eine psychosoziale Krankheit in der ganzen Region“ des ehemaligen Jugoslawien. Und hörte dafür Protest und Pfiffe. Kalkül der Rüstungsindustrie, Entmachtung der UNO, Sicherung der Erdölvorkommen im Kaukasus, amerikanisches Streben nach Weltherrschaft, bundesdeutsche Kriegslust seit Ende des Kalten Krieges warfen zahlreiche Redner den für den Einsatz Verantwortlichen vor.

Den größten Beifall bekam der Bundestagsfraktionsvorsitzende der PDS, Gregor Gysi: „Gregor! Gregor!“ schallt es über den Gendarmenmarkt. Mit dem im Herbst herbeigewählten „Wechsel“ in Bonn, sagte er, habe er nicht den „vom Frieden zum Krieg“ gemeint. Nutznießer sei vor allem die Rüstungsindustrie. Der Krieg werde außerdem eine „höchst gefährliche“, weltweite Aufrüstung zur Folge haben. Die „einzige Waffe“ der Friedensbewegung sei es, „immer mehr zu werden“. Ein zeitgleich von neonazistischen Gruppen organisierter Aufmarsch am Brandenburger Tor endete als Wasserschlag. Nur rund 50 Rechtsextreme waren gekommen. Auch die Gegendemonstration blieb klein. Der Berliner Großdemonstrationstag endete am späten Nachmittag friedlich. Heide Platen