Das Lachen des Vietcong

Ein Glücksfall für Filmhistoriker: In vietnamesischen Militärarchiven lagern über eine Million Meter Filmmaterial vom Krieg, die der Berliner Progress-Filmverleih in den kommenden Jahren auswerten wird. Jetzt wurden erstmals 90 Minuten gezeigt  ■   Von Dorothee Wenner

Die Geschichte beginnt so verschlungen wie die südlichen Verästelungen des Ho-Chi-Minh-Pfads: Alexander van Dülmen, Geschäftsführer des Berliner Progress-Filmverleihs, reiste 1997 nach Hanoi, um die Vietnamesen für Til Schweigers „Knockin' on Heaven's Door“ zu begeistern. Bei dieser schwierigen Mission begleitete ihn Nguyen van Nhiem als Dolmetscher. Irgendwann erzählte er dem deutschen Gast beim Bier, daß er 1970 nach dem Studium an der Filmhochschule Babelsberg sechs Jahre als Frontkameramann gearbeitet habe. Ob man dieses Material besichtigen könne, fragte van Dülmen vorsichtig und war in der Spur.

Was dann geschah, kommt für Historiker und Filmexperten der Hebung einer mittleren „Titanic“ gleich: In den staatlichen Filmarchiven Vietnams schlummern allein aus Armeebeständen mehr als eine Million Meter Celluloid. Ordentlich sortiert, aber nicht optimal gelagert. Den vietnamesischen Archivaren fehlte das Geld für Computer, Chemikalien und Kühlaggregate, um die empfindlichen Schätze vor dem sicheren Verfall zu bewahren und zugänglich zu machen. Amerikanern, Koreanern und Japanern, die sich lange schon für diese Aufgabe angedient hatten, wollte man das filmische Gedächtnis des Landes nicht anvertrauen, zu groß waren die Ressentiments. Mit den Nachlaßverwaltern des inzwischen privatisierten Defa-Erbes dagegen wurde das vietnamesische Filminstitut nach monatelangen Verhandlungen im Januar einig: Progress sicherte sich die exklusiven Rechte, das Achivmaterial (1945 bis in die Gegenwart) zu digitalisieren und kommerziell auszuwerten, in jeweiliger Absprache und mit Gewinnbeteiligung der vietnamesischen Seite.

Der Westdeutsche van Dülmen gibt unumwunden zu, daß die Kooperation ohne den Hintergrund der DDR-Volkssolidarität und die prominente ostdeutsche Vergangenheit von Progress niemals einzufädeln gewesen sei. Am Wochenende präsentierte Progress im Rahmen des Symposiums „Neue Perspektiven des Vietnamkrieges“ in Berlin erstmalig 90 Minuten aus den Armeefilm-Beständen. Der Zeitpunkt hätte nicht besser sein können, um über die Bedeutung von Filmaufnahmen im Krieg und ihre Auswertung zu sprechen. Der Vietnamkrieg gilt als erster „Fernsehkrieg“ der Geschichte: Nie zuvor war es Berichterstattern möglich, so unmittelbare Aufnahmen vom Kampfgeschehen zu liefern.

Das lag zum einen an den Besonderheiten eines Krieges ohne geographisch feste Fronten, zum anderen an den flexibler gewordenen Kameras – und an einer Kriegsführung, die auf amerikanischer Seite keinerlei Zensur ausübte. Welche Konsequenzen die allabendlichen Fernsehbilder von verstümmelten Leichen, verzweifelten Kindern und zerbombten Häusern hatte, begriffen die US-Generäle erst, als es für sie zu spät war. Ungeachtet stramm patriotischer Kommentierung durch Kriegsberichterstatter wie Peter Arnott (heute CNN), der vor einem frisch niedergebrannten Dorf sagte: „Wir mußten den Ort zerstören, um ihn zu befreien“, wirkten die Bilder offenbar stärker auf das Bewußtsein. Die Heimatfront bröckelte schnell, und im nachhinein analysierten Militärhistoriker, daß die eigene Fernsehberichterstattung schuld an der US-amerikanischen Niederlage gewesen sei. Margaret Thatcher war die erste, die im Falklandkrieg mit drastischen Zensurmaßnahmen Lehren aus Vietnam zog. Im Kosovokrieg spricht man vom „Nachrichtenmanagement“.

Ungeachtet der Tatsache, daß die amerikanischen Fernsehbilder aus Vietnam schärfer als jemals zuvor oder danach dokumentierten, wie ein moderner Krieg am Austragungsort aussieht, ist die Öffnung der vietnamesischen Archive ein Glücksfall insbesondere für Historiker. Denn so ganz hat bis heute kaum jemand außerhalb Vietnams wirklich begriffen, wie es dieser „rückständigen Bauernnation“ gelingen konnte, die hochgerüstete US-Armee zu besiegen.

Nicht zuletzt ist es dem filmbegeisterten Ho Chi Minh zu verdanken, daß trotz aller ökonomischen Schwierigkeiten das Kriegsgeschehen auch aus vietnamesischer Perspektive ausführlich dokumentiert wurde. Insgesamt, so berichtete Frontkameramann Ngyuen van Nhiem, hätten 600 Personen als Filmberichterstatter gearbeitet, von denen nur die Hälfte überlebte. Das Material sei oft im Dschungel entwickelt und vorgeführt worden. Die Frage nach Zensur und Propagandastrategien habe sich aus seiner Erfahrung damals erübrigt: Es sei eine absurde Vorstellung, während eines Angriffs ins Drehbuch zu schauen. Egal, ob er bei einer wichtigen Schlacht heldenhafte Taten oder die Folgen eines Luftangriffs aufnahm, die Wirkungen auf das vietnamesische Publikum seien identisch gewesen.

Auch für ein westliches Publikum gibt es in den vietnamesischen Filmen einiges zu entdekken, um das eigene Bild von diesem Krieg zu revidieren. Unter dem visuellen Schleier, den unzählige US-Spielfilme nach Kriegsende über das Geschehen warfen, bekommen die gern als gespenstisch, anonym und unheimlich dargestellten Vietcong plötzlich ein Gesicht. Verblüffend an der kleinen Auswahl von Filmausschnitten war das Lachen von Personen, die selbst in lebensgefährlichen Situationen in einer Mischung aus Scham und Freude auf eine Kamera reagierten, die sich vielleicht zum ersten Mal im Leben auf sie richtete.

Der Krieg, die Bomben, der Tod waren damals so sehr Alltag geworden, daß es wirklich eine ganz akute Bedrohung brauchte, um im gefilmten Gesicht eines Lkw-Fahrers jene Anspannung zu sehen, die uns Spielfilme in jeder Sekunde des Gefechtszustands suggerieren. Man erahnt vielmehr in den Bildern vom Ho-Chi-Minh-Pfad, daß dieser Krieg keineswegs allein durch todesmutige Heldentaten gewonnen wurden: Eine schier unendliche Schlange von Männern und Frauen schiebt schweres Kriegsgerät auf Fahrräder geschnallt durch den Matsch, andere packen sich Munition in Rucksäcke, weil wieder einmal die Amerikaner einen Lkw zerbombt hatten. Man sieht die Trägerinnen und die Fahrradschieber nur Sekunden und bekommt doch ein beklemmendes Gefühl, wenn man im Kommentar hört, daß diese strapaziösen Wanderungen Tage und Wochen dauerten. Ein unvorstellbarer Kriegsalltag wird sichtbar, in dem junge Frauen mit solcher Nonchalance Minen entschärfen, daß man heute über ihre Lässigkeit dabei schon wieder lachen kann.

Merkwürdig auch, daß in diesen vietnamesischen Bildern vom Krieg ein amerikanischer Pilot bei seiner Gefangennahme am Tunnelausstieg keine angstgeweiteten Augen hat, wie man sie von Schauspielern aus nämlichen Situationen kennt. Guckt man im vielleicht dramatischsten Moment des Lebens einfach nur blöd und ist alles andere Hollywood-Kitsch? Oder übernimmt man emotional und unwillkürlich doch immer den politischen Standpunkt der Kamera, die solche Momente festhält?

Der zum Symposium geladenene Historiker und Aktivist gegen den Vietnamkrieg, Gabriel Kolko, meinte, für ihn sei es völlig nebensächlich, daß diese Bilder einst zu Propagandazwecken entstanden und gezeigt worden seien. Die Aufnahmen würden in seinen Augen vor allem eine Realität zeigen, wie er sie auf seinen Reisen ins Kriegsgebiet damals erlebt habe. Er erinnerte sich an eine 80 km lange Autofahrt, auf der er kein einziges unzerstörtes Haus gesehen habe: Angesichts solcher Zustände seien propagandistische Direktiven an Filmschaffende überflüssig gewesen.

Für die historische Forschung erhofft er sich aus dem neu zugänglichen Archivmaterial insbesondere Aufschluß über das Wesen der Solidarität der vietnamesischen Bevölkerung mit der Armee. Vielleicht, so Kolko, ließen sich die Filmaufnahmen auch im Hinblick auf die vietnamesische Gegenwart im Kampf wider die korrupten Machthaber von heute politisch nutzen. Allzu schnell sei in Vergessenheit geraten, daß vor allem Bauern diesen Krieg geführt hätten. Irgendwie erleichternd und richtig, daß zum Abschluß der Veranstaltung darauf verwiesen wurde, daß die beeindruckenden Bilder vor allem mit der Gegenwart Vietnams in Zusammenhang gebracht werden sollten.

Winfried Scharlau, früher Vietnam-Korrespondent und heute „Weltspiegel“-Moderator, erzählte, die ARD habe sich Ende der 70er Jahre sehr beschämt darüber gezeigt, wie naiv man während des Vietnamkriegs die Haltung der Amerikaner zur eigenen gemacht habe. „Dabei dachte ich damals, wenn Medien so berichten, kann es in Zukunft keine langen Kriege mehr geben.“