Geduscht wird getrennt

■ Auf diese Bilder sollte man gefaßt sein: Die „37 Grad“-Reportage widmet sich diesmal sog. siamesischen Zwillingen (22.15 Uhr, ZDF)

In den USA herrscht eine spürbar größere Freundlichkeit gegenüber physisch und psychisch Behinderten als in Deutschland. Strenge Antidiskriminierungsgesetze garantieren Behinderten zumindest in juristischer und technischer Hinsicht ein Leben unter optimalen Bedingungen. Bei Nichtbeachtung drohen hohe Entschädigungsklagen. Der Umgang mit Behinderten ist selbstverständlicher. Das müssen einige der Gründe dafür gewesen sein, daß Astrid Bock und Klaus Steinberg ihre Reportage über sogenannte „siamesische Zwillinge“ in der Neuen Welt drehten.

Hier sollte man auf diese Bilder gefaßt sein. Reba und Laurie beispielsweise leben seit dreißig Jahren als „verbundene Zwillinge, nicht als siamesische“. „Schließlich wohnen wir ja nicht in Siam!“

Die Schwestern sind an Nase, Wange und Stirn zusammengewachsen; jede hat nur ein Auge, und Laurie, deren Beine verkümmert sind, muß von Reba getragen und geschoben werden. Die völlig überforderten Eltern gaben die Zwillinge weg. Elf Jahre verbrachten die Mädchen in einem Heim für geistig Behinderte, bis man endlich beachtete, daß sie sich vollkommen normal entwickelten. Laurie hat das Physikum gemacht, wollte dann aber Sängerin werden. Ein kühner Traum, denn Rebas und Lauries Leben ist nicht nur wegen der glotzenden Passanten überaus anstrengend. Die kleinsten Unterscheidungsmerkmale zwischen ihnen sind mühsam erarbeitet: Reba duscht morgens, Laurie nur abends. So muß sich die eine immer in den Duschvorhang wickeln, damit die andere naß werden kann. Friseurbesuche, Szenen im Supermarkt werden zu Bildern, die den Herzschlag des Zuschauers beschleunigen.

Steinberg und Bock haben alles vermieden, was nur ansatzweise in Richtung Freakshow führen könnte. Man kann die Regisseure dafür nur achten. Bewundern muß man Reba und Laurie für ihren Lebenstrotz. „Wir sind nicht behindert, wir können alles tun, was andere auch tun“, behaupten die Zwillinge stur. „Wir leben mit unserem Aussehen, also sollen die anderen das auch.“ Doch gewöhnt haben sich die beiden nicht an ihre Untrennbarkeit, auch nach über dreißig Jahren nicht. Wie muß das auch sein: Wenn die eine sich drehen will, muß die andere auch.

Anders als bei der 25jährigen Christine, die operativ von ihrer Zwillingsschwester getrennt wurde, hatten die Schwestern keine Wahl. Eine Operation war bei ihnen noch nicht möglich. Christines Schwester aber starb bei dem schweren Eingriff. Seither leidet Christine, eine hübsche und viel zu dünne Frau, unter paradoxen Schuldgefühlen und Depressionen. Den psychischen Aspekten siamesischer Geburten ist nicht mal die Wissenschaft gewachsen. Diese Dokumentation geht schwer an die Nieren. Laurie und Reba haben hart gearbeitet, um ihre Einsamkeit zu vergessen. Es bricht einem schier das Herz, als Reba sagt, daß sie „natürlich ein Kind gebären möchte, mit allem, was dazu gehört“ – schließlich sei sie eine Frau. So viel Courage, so viel Aufbegehren – so wenig Liebe.

Als Zuschauer sollte man sich nicht von einer protestantischen Dankbarkeit über die eigene Normalität überwältigen, sondern hilflose Demut walten lassen. Das hier gezeigte Leben ist nämlich einfach nicht VORSTELLBAR. Anke Westphal

Zur Achtung für die Regisseure, weil sie die Freakshow vermieden, tritt die Bewunderung für den Lebenstrotz der Zwillinge