Schlagloch

Die Schlacht der Deutungen  ■ Von Klaus Kreimeier

„Etwas geht vor im Medienpark, taubenfüßig und unscheinbar wie immer.“ Friedrich Kittler in der „Zeit“

Es mehren sich die Kollateralschäden. Den Amerikanern sind die „unbeabsichtigten Nebenschäden“ seit der Berichterstattung über den Vietnamkrieg im US-Fernsehen – Bilder brennender Dörfer, gefolterter Vietcongs und napalmgeschädigter Kinder – in denkbar schlechter Erinnerung.

Jetzt also die chinesische Botschaft in Belgrad. Unklar bleibt, ob das „tragische Versehen“ von der Nato blindlings angerichtet oder aber vom US-Geheimdienst in Auftrag gegeben wurde, um eine sich abzeichnende politische Lösung im UN-Sicherheitsrat zu hintertreiben. Die Schlacht der Deutungen, als welche der Kosovo-Krieg sich von Beginn an darstellt, erhält neue Nahrung.

Eine „Schlacht der Lügen“ (so der amerikanische Journalist John R. MacArthur über den Golfkrieg) ist dieser Krieg ohnehin – wäre es anders, wäre er kein Krieg. Das von der IG Medien aufgestellte Postulat einer „authentischen und unabhängigen Berichterstattung“ ist ehrenwert, aber purer Idealismus angesichts der Tatsache, daß die Militärspitzen der kriegführenden Parteien nicht nur das Wissensmonopol verwalten, sondern auch die alleinige Deutungsmacht beanspruchen.

Mit unseren „Medienvertretern“ dürfen wir in der ersten Reihe sitzen, wenn die Herren Solana, Clark oder Shea rhetorisch, knapp mit ihrem Zeigestock präzis den computergraphisch rekonstruierten Belgrader Stadtplan abtastend, ihr Deutungswerk verrichten und erläutern, warum sie tragischerweise zur Strategie der Kollateralschaden-Bombardierung übergegangen sind.

Wieder einmal also sitzen die Medien in der von ihnen selbst wortreich beschworenen Falle. Aber auch die Medienwissenschaft, die das Debakel zu analysieren hätte, bewegt sich überwiegend im Unschärfebereich sattsam bekannter Lehrmeinungen und trägt zur Erkenntnis der Lage wenig bei. Die Kriegsberichterstattung verlaufe noch immer nach dem „Modell des Krieges von 1870/71“, moniert der Forscher Friedrich Krotz vom Hamburger Hans-Bredow-Institut. Seine Forderung, alle Journalisten sollten sich „über Kulturen und Grenzen hinweg“ vereinigen, um die „Verhüllungsstrategien der Militärs“ zu knacken, hätte allerdings schon zur Zeit des Trojanischen Krieges homerisches Gelächter geerntet.

„Einer Militärallianz, die digitale Copyrights hält, muß man einfach glauben“, hält der pfiffige Friedrich Kittler dagegen und führt erst einmal den Luftkrieg im Internet. Und Dieter Prokop, Professor für Medienforschung an der Universität Frankfurt/Main, beschwert sich darüber, daß „die Journalisten nicht sagen: Dieser Krieg nützt vor allem der Rüstungsindustrie.“ (Was auch Dieter Prokop nur wissen kann, weil er es von den Journalisten erfahren hat.)

Ein anderer Frankfurter, Jürgen Habermas, wittert in solchen altlinken Bequemlichkeiten, die Schuld stets beim „Imperialismus“ und seiner Rüstungsindustrie zu suchen, eine „Hermeneutik des Verdachts“, die „ziemlich mager“ sei: Früher waren es Rohstoffressourcen und Absatzmärkte, heute sind es halt „Einflußsphären“ und eine neue „Rollenfindung“ der perfiden Nato – als gebe es irgendwo in den Wolken über dem Kosovo einen Super-Clinton, der die Strippen zieht.

Dabei verhält sich alles womöglich viel schlimmer, aber auch banaler. In militärischen Konflikten dirigiert das Fernsehen die Politik der Wahrnehmung an der „zweiten Front“; es beliefert den Krieg im Kopf, der sich in den zerstreuten Publica des Global Village abspielt, mit Bildern. Der Begriff der politischen Massenbeeinflussung, vulgo: Propaganda, greift hier zu kurz. Er verschleiert eher den Mechanismus, der das Nervensystem der „Öffentlichkeit“ (unsere Emotionen, unser Halbwissen, unsere schlimmen Ahnungen, unsere Friedenssehnsucht) mit dem der Militärmaschinerien verkoppelt und beide zu einem Informationssystem zusammenschließt. In diesem diffusen Kräftefeld wird in die Erregung von Gefühlen investiert, und Aufmerksamkeit heißt das kostbare Gut, um das geworben wird. Die Bildmedien funktionieren hier weniger als eine ideologische denn als eine psychologische Transmissionsinstanz.

Leitmotivisch durchzieht die Sentenz, daß im Kriegsfall die „Wahrheit das erste Opfer“ sei, die Berichte, Kommentare und Diskussionen. Nach dem Desaster des „Videokriegs“ von 1991 wird nunmehr das konjunktivische Sprechen kultiviert. Direkt und indirekt warnen die zur „Einordnung“ verpflichteten Moderatoren ihre Zuschauer und sich selbst vor dem von ihnen präsentierten Material; kaum ein Kanal, der sich nicht aufgefordert sähe, in Spezialsendungen die verfängliche Nachrichtenlage zu thematisieren. Das geographische und politische Zentrum dieses Krieges, das Kosovo, ist absolut unsichtbar, ein schwarzes Loch, in das unsere Ängste, aber auch unsere zügellosen Gewaltphantasien stürzen.

Der Kampf um die Bedeutung dessen, was zu sehen ist, ist der gegenwärtige mediale Status eines Konflikts, der von der Nato als „humanitäre Intervention“ ausgegeben wird – und von der Gegenseite als „totaler Krieg“, den der „amerikanische Imperialismus“ und die „faschistische Nato“ gegen das serbische Volk entfesselt haben. Aber die Kommentatoren bieten flugs Relativierungen an; sie zelebrieren den Zweifel, genauer: ihr Nichtwissen als Tugend und empfehlen ihrem Publikum dringend, den Bildern keinesfalls mehr Vertrauen zu schenken als jener Werbung, der das Gesetz den Hinweis auf die Verpackungsbeilagen vorgeschrieben hat.

Die Bilder, die uns aus dem Kosovo-Krieg erreichen, sind visuelle Signale eines Geschehens, dessen Panorama erahnbar, aber ausgeblendet hinter den Bildern liegt und vom Bewußtsein des Zuschauers errechnet werden muß.

Aber wir tasten nicht nur im dunklen. Kittler hat recht: „Die Vielwegmedien von heute scheinen fast Nato-Echtzeit zu erreichen.“ Das Internet, als institutionalisiertes Chaos ein Abbild der großen Unübersichtlichkeit, bietet dem, der nicht Deutungen oder Gefühle, sondern Fakten sucht, Informationen in Hülle und Fülle an.

Daß die demokratische Opposition in Belgrad tot sei, ist eine Legende, die der Nato gleichermaßen wie Miloevic ins Konzept passen mag, aber nicht den Tatsachen entspricht. Die Opposition sendet weiter. Das von den Machthabern am 2. April liquidierte unabhängige Radio B 92 klärt im Netz über die Machenschaften seiner illegalen Okkupanten auf. Im Netz richtet sein letzter Chefredakteur, Veran Matic, seinen Appell an die Weltöffentlichkeit, weder der Nato noch Miloevic Glauben zu schenken.

Im Netz publiziert Anem – Association of Independet Electronic Media in Yugoslavia – Tag für Tag ihre Berichte über die Verfolgung und Ermordung oppositioneller Journalisten – und über die Katastrophe, die jeder Kollateralschaden der Nato vor allem in der zivilen Gesellschaft Belgrads anrichtet. In jenem demokratischen Milieu, das unser Außenminister für eine Perspektive des Friedens und der Verständigung gewinnen will – und das er mit jeder Bombe tiefer in die Verzweiflung treibt.

Kriegspropaganda? Es ist viel banaler – und schlimmer

Das Kosovo ist absolut unsichtbar, ein schwarzes Loch