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Eine Erfindung namens Milosevic Von Dragan Velikic

1. Alles hat natürlich mit einer Erzählung begonnen oder, genauer gesagt, mit einem Wechsel der Tonlage, in der die Erzählung vorgetragen wird. Äußerungen, die während der Herrschaft Titos jahrzehntelang unter der Oberfläche zurückgehalten wurden, Äußerungen über unseren vergessenen Ursprung, über unsere Urahnen, die uns gerettet haben, und über unsere großen Schlachten, diese Äußerungen wurden damals, nach dem Tode von Josip Broz Tito, vorherrschend. (...)

Solche Äußerungen bedeuteten vor allem, daß statt einer allgemeingültigen Wahrheit, auf der ein Staat begründet sein muß, die Wahrheit als Waffe geschaffen wird, und zwar als eine Waffe für einen „parteiischen“ Sieg. Die Logik der historischen Äußerungen besteht darin, daß uns die allgemeingültige Wahrheit immer wieder „besiegt“ und daß jetzt die Stunde gekommen ist, unsere „eigene“ Wahrheit zu verkünden, die zu „unserem“ Sieg beitragen wird. Das heißt: Die vorherrschenden Erzählungen wurden die alten Erzählungen darüber, wieviel „wir“ verloren haben, wieviel wir fortwährend verlieren, wie sehr wir ständig benachteiligt wurden, und das schon seit eh und je, schon seit vielen Jahrhunderten, besonders aber seit einigen Jahrzehnten, als wir gezwungen wurden, unseren Sieg im Zweiten Weltkrieg zu vergessen, als wir als „Sieger“ gezwungen wurden, den Sieg den „Besiegten“ zu überlassen. Die jahrhundertelangen Sieger, die ständig ihre Siege verloren haben, sind natürlich die Serben. Die Verlierer über die Jahrhunderte hinweg, die trotz ihrer Niederlage immer wieder aufs neue gewinnen, sind natürlich die Albaner. Die Albaner sind diejenigen, die uns nach unserem Sieg dadurch besiegt haben, daß ein Recht geschaffen wurde, welches gleichermaßen für uns wie für sie galt. Dadurch, daß wir gezwungen wurden, diese Rechte auch für sie zu akzeptieren, haben wir alle unsere eigenen Rechte verloren und sind besiegt worden.

Dies war im Grunde, in kürzester Form, die Meinung, die von einem Teil der serbischen Intelligenz am Ende der achtziger Jahre Besitz ergriffen hatte. Damals sind auf gespenstische Weise zwei Sätze zum Leben erwacht, um die herum sich diese historischen Äußerungen entfalten werden, zwei Sätze, die bis heute den politischen Diskurs in Serbien bestimmen: Zum einen ist dies ein Satz von Dobrica Cosic, Mitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste, der besagt, daß „die Serben immer im Frieden verlieren, was sie im Krieg gewinnen“, zum anderen ein Satz von Matija Beckovic, ebenfalls Mitglied der Akademie, daß „Kosovo das kostbarste serbische Wort ist“.

Der Satz, daß die Serben im Frieden immer verlieren, was sie im Krieg gewinnen, bedeutet im Grunde, daß der Friede den Serben den größten Verlust bringt, daß der Frieden als solcher sie immer besiegt und daß ihr einziger Ausweg von jeher, und daher auch jetzt, der Krieg ist, denn die Serben können nur im Krieg gewinnen, nur im Krieg verstehen sie sich zu verteidigen. Der Satz von Beckovic hat dagegen den Raum bezeichnet, in dem sich in den 90er Jahren diese Gewinn-und-Verlust-Rechnung abspielen sollte. Dieser Satz besagte eindeutig, daß jener Raum das Kosovo sei, und daß die Serben für ihn den höchsten Preis zahlen würden. Der höchste Preis ist natürlich das Leben oder, was auf dasselbe hinausläuft, der Tod. Und so wurde in dem mit diesen Sätzen umrissenen Raum jene historisch-politische Ideologie produziert, die definitiv unsere Wahrheit festlegte und unseren Sieg versprach.

Slobodan Miloevic, ein unwichtiger Apparatschik, zu jener Zeit politisch bereits regsam, aber unsichtbar, verloren in den staubigen Gemächern der riesigen Gebäude der ehemals herrschenden Partei, die zu existieren aufgehört hatte, wurde mit einem Schlag als eine Figur erdacht, die in der Lage wäre, die historischen Auffassungen unseres Rechts und unserer Wahrheit auszusprechen. Slobodan Miloevic ist folglich das Phantasma der „nationalen“ Intelligenz Serbiens, ein Pinocchio, der nur zu dem Zweck geschaffen wurde, definitiv, ein für allemal und allen unsere Wahrheit zu verkünden, die wahrer ist als alle anderen Wahrheiten, und uns unseren „parteiischen“ Sieg sicherzustellen.

2. Dieser Pinocchio wurde allerdings mit großer Sorgfalt hergestellt. Er wurde so geschaffen, daß er dem Phantasma der Nation entsprechen konnte. Wie jedes Phantasma tauchte auch dieses schlagartig und aus dem Nirgendwo auf. Niemand hatte etwas von ihm gewußt und je von ihm gehört (vielleicht mit Ausnahme einiger weniger noch immer in die Fragen der Partei Eingeweihter, die unsichtbar geworden war). Er tauchte auf als ein unbeschriebenes Blatt, auf dem sich dann natürlich alles eintragen ließ. (...) Auf diesem Papier steht, daß Slobodan Miloevic ein ganz gewöhnlicher Mensch ist, ein Mensch wie wir, der denkt wie wir, dasselbe will wie wir, unsere Schmerzen empfindet und all unsere Leiden erduldet.

Die ganze Logik, auf der die Erfindung namens „Slobodan Miloevic“ beruhte, war keine Logik des Rechts: Ihr müßt begehren, was das Gesetz begehrt. Diese Logik war vielmehr historisch-politischer Natur: Ich werde das begehren, was ihr schon lange begehrt, alle meine Wünsche sind nichts anderes als eure Wünsche, und alle eure Wünsche stehen dem Gesetz entgegen, denn dieses Gesetz macht euch rechtlos, dieses Gesetz bringt euch Schaden. Die historisch-politischen Reden von Slobodan Miloevic entstanden somit von Anfang an als gegen das Gesetz gerichtete Reden.

3. (...) Symbolisch wurde dieser Kampf für die absolute Gerechtigkeit in jener Nacht eröffnet, als Slobodan Miloevic den Serben im Kosovo versprach, daß „hinfort niemand mehr wagen werde, sie zu schlagen“. Das versprach er den Serben, die im Kosovo demonstrierten und der Polizei „gegenüberstanden“. In diesem Moment und mit diesem Satz, daß „hinfort niemand mehr wagen werde, sie zu schlagen“, begann Miloevic sich gegen die Polizei des Staates, gegen die bestehende Rechtsordnung des Staates und gegen den bestehenden Staat zu erheben.

Aber bereits in den folgenden Jahren, als Miloevic, der legitime Kämpfer für das „Recht“ und die Wahrheit des serbischen Volkes, Präsident des serbischen Staates geworden war, zeigten sich zudem bestimmte Konnotationen seines berühmten Satzes, (der im übrigen zu seinem Machtantritt beigetragen hat): „Hinfort wird niemand mehr wagen, euch zu schlagen.“ Denn bereits in den folgenden Jahren wurden im Kosovo Albaner umgebracht, die gegen den serbischen Staat demonstrierten, und dies zu einer Zeit, als Miloevic' neue und schwungvolle Herrschaft die neue serbische Verfassung verkündete. (...)

Der historische Diskurs begann sich in einen Rechtsdiskurs zu verwandeln, in das Reden über einen souveränen Staat, der sich verteidigen muß. Und dieser Rechtsdiskurs, der auf der Monstrosität verschiedener historischer Erzählungen beruhte, wurde einige Jahre später in Belgrad gebraucht, dieses Mal gegen diejenigen Serben (wenn das überhaupt von Bedeutung ist), die gegen Miloevic und gegen den Krieg demonstrierten, den er begonnen hatte. Erst da zeigte sich die schreckliche Aufspaltung seiner Herrschaftsstrategie. Miloevic hat nämlich seine Macht dadurch erhalten und erhält sie weiterhin dadurch, daß er den Rechtsdiskurs gegen alle diejenigen benutzt, die sein Regime erschüttern könnten. Leute, die die Souveränität des serbischen Staates angreifen, dürfen, so wurde erklärt, eingesperrt, verprügelt oder, auch das kam vor, umgebracht werden. Auf der anderen Seite gelang es Miloevic immer wieder, sich die Unterstützung derjenigen zu sichern, die ihn aufrechterhielten, indem er fortwährend die historische Rede vom ewigen Schaden ins Feld führte, der den Serben zugefügt werde.

So läßt sich zum Beispiel erklären, wie Miloevic es geschafft hat, auch nach dem Krieg in Kroatien und in Bosnien an der Macht zu bleiben – nach Kriegen, die alle Menschen in Serbien als Niederlage erlebt haben (wahrscheinlich zu Recht: denn der Krieg in Kroatien endete mit der Vertreibung der gesamten serbischen Bevölkerung aus Kroatien ...). So läßt sich noch allgemeiner die Überzeugungskraft einer Perversion erklären, wonach nur die Niederlage ein Sieg ist, einer Perversion, auf der die gesamte Regierung von Miloevic begründet ist.

(...) Die Spirale dieser ungeheuerlichen Logik entwickelte sich natürlich im Verlauf des Krieges in Bosnien und während der Sanktionen weiter: Wie immer, wie vor sechshundert Jahren, wie vor zweihundert Jahren, wie vor siebzig Jahren, wie vor fünfzehn Jahren sind die Großen und Ungerechten gegen uns, die Kleinen und Gerechten. Und wie immer müssen wir auch jetzt durchhalten, denn je länger wir die Leiden ertragen, um so mehr werden wir bekommen (...). Wir werden natürlich niemandem Schaden zufügen, denn wir stehen auf der Seite der Gerechtigkeit (...). Im Grunde ist dies also ein historisch-biblischer Diskurs, eine Berufung auf die verlorene Gerechtigkeit, die wieder erlangt werden wird, und das Insistieren darauf, daß in der absoluten Niederlage der Sieg zu sehen sei.

4. Nur wenn wir diesen historisch-politischen Gedanken im Blick haben, der die Grundlage für Miloevic' Herrschaft bildet, können wir seine Bereitschaft verstehen, den Kampf mit der Nato aufzunehmen. Es ist falsch anzunehmen, Miloevic habe nicht geglaubt, daß es zu einem Angriff der Nato auf Jugoslawien kommen werde. Diese Annahme ist natürlich logisch, aber deshalb ist sie um nichts weniger falsch. Sie ist logisch, da sie auf dem gesunden Menschenverstand beruht und von vielen Richtungen der Staatsphilosophie bestätigt wird, die ungefähr folgendes besagen: Um die Souveränität eines Staates zu begründen oder zu bestätigen, ist es nicht notwendig, daß dieser Staat durch Blut watet. Es ist nicht der Krieg, der die staatliche Souveränität begründet oder bestätigt. Im Gegenteil: Es ist die Angst, worauf die staatliche Souveränität gründet. Das bedeutet: Der Schwächere nimmt davon Abstand, Krieg zu führen, um seine Souveränität zu verteidigen, weil er fürchtet, im Wettstreit mit dem Stärkeren alles zu verlieren. Dies ist in groben Umrissen die klassische Theorie der politischen Philosophie seit Hobbes. Dies ist auch die grundlegende Voraussetzung, von der der Westen ausgegangen ist.

Der Westen ist davon ausgegangen, daß Miloevic einen Friedensvertrag akzeptieren werde, da er fürchten müsse, (...) die Souveränität zu verlieren. Indessen hat sich gezeigt, daß solche Annahmen falsch sind. Miloevic war davon überzeugt, daß die Nato angreifen werde, er hat natürlich gewußt, daß er sehr viel schwächer ist; er ist trotzdem in den Krieg gezogen, weil er keine Angst hat. Damit hatte der Westen in keiner Weise gerechnet. Er hat auch überhaupt nicht damit gerechnet, daß die Serben keine Angst haben würden. Diesen Mangel an Angst sollte man freilich nicht als außerordentlichen Mut interpretieren, sondern als schlichte und unvermeidliche Folge des historisch-politischen Denkens. Denn wenn wir diese letzte und größte Schlacht um die Wahrheit schlagen, wenn es notwendig wird, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die uns jahrhundertelang vorenthalten wurde, dann sind wir als diejenigen auserwählt, die all unserer größten Vorfahren, all unserer ersten Könige und Heiligen würdig sind. Mehr als das: Wir werden würdig sein des Kampfes für die höchste Gerechtigkeit und Wahrheit, würdig des Kampfes, der im Grunde ein übermenschlicher Kampf ist.

(...) Darin liegt der Sinn des zweiten grundlegenden Slogans, auf dem die Ideologie von Miloevic gründet; diesen Slogan hat er selbst geäußert, und ihn wiederholt er jedesmal, wenn Serbien mit einer Niederlage konfrontiert wird: „Serbien wird sich nicht beugen.“ (...).

5. Miloevic' Position ist indes nur scheinbar anachronistisch. Das einzige, was an dieser Position anachronistisch ist, ist das Motiv. Die Struktur dieser Position hingegen ist durch und durch modern und steht mit den heute herrschenden Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnissen völlig in Einklang. Denn: Die Bombardierung Jugoslawiens seitens der Nato ist durch die Idee des allgemein Guten und des Rechts gerechtfertigt, durch die wunderbare neue Welt, die im nächsten Jahrhundert anbrechen wird, wo es mit einem Schlag keinen Nationalismus, keinen Rassismus und Totalitarismus mehr geben wird, kurz gesagt, wenn wir, groß und stark und gerecht, alle Probleme gelöst und der Welt Freude gebracht haben werden.

(...) Dies ist im Grunde die absolut selbe Struktur der Argumentation, die auch Miloevic verwendet hat. Wir werden ein bißchen töten, nur damit dann alle glücklich sein werden. Gleichwohl besteht ein Unterschied. Miloevic' Position ist insofern anachronistisch, als ihr Motiv der „heilige serbische Boden“ ist, weil er also noch immer nicht begriffen hat, daß heutzutage Macht nicht aus der Kontrolle eines Territoriums resultiert, sondern aus der Kontrolle des Kapitals. (...)

Der Krieg mitten in Europa ist dagegen reiner Profit. Ist etwa der Dollar im übrigen nicht gestiegen, ist der Euro nicht schwächer geworden, stagniert nicht die D-Mark? Das Steigen des Dollars ist die Idee der neuen Gerechtigkeit. Miloevic weiß das nicht. Er denkt, daß es um die Größe des Territoriums geht, das Serbien heißen wird.

Dragan Velikic , Schriftsteller, konnte sich aus Belgrad absetzen, bevor die Grenze für wehrpflichtige Männer geschlossen wurde. Seinen Text entnehmen wir gekürzt dem neuen rororo-Band „Krieg im Kosovo“, 284 Seiten, 14,90 Mark

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