Wer sind die Milosevics?

Das serbische Drama und der Motor seiner Katastrophe. Psychopathologie eines unglücklichen Paares  ■   Von Stanko Cerovic

Seit Jahren enden alle Überlegungen zur Tragödie auf dem Balkan mit einer Frage: Wer ist Slobodan Miloevic? Das Epizentrum des jugoslawischen Dramas hat sich verschoben, aus einem lokalen ist ein globaler Konflikt geworden. Einige Akteure sind verschwunden, dafür sind andere auf die politische Bühne getreten, aber nur ein einziger hat die Szene die ganze Zeit über nicht verlassen: Slobodan Miloevic. Seit seiner Machtübernahme in Serbien im Jahre 1987 ist er der eigentliche Motor der Katastrophe. Während die Scheinwerfer in diesem letzten Akt des Jahrhunderts langsam verlöschen, beherrscht er noch immer die Bühne, im Kreise der vollständig angetretenen politischen Elite des Westens, ganz als ob eine geheimnisvolle Hand hinter den Kulissen der Geschichte die Inszenierung dirigierte und das ungläubige Publikum ein letztes Mal mit der Dummheit und dem Bösen konfrontierte.

Wer ist dieser Mann?

Er funktioniert wie ein Zerrspiegel, der nur Schwächen und Fehler zurückwirft und alles andere als falsch und überflüssig erscheinen läßt. Begriffe wie Opfer oder Unschuld werden ihres Inhalts entleert: Er besetzt wichtige Posten am liebsten mit den übelsten Kanaillen, weniger um sie zu belohnen, als um die sozialen Werte ins Lächerliche zu ziehen. 1987 wird Miloevic von der Presse zum Mann des Jahres erklärt, weil er „die Apathie des serbischen Volkes in einen serbischen Sieg zu verwandeln“ vermocht habe. Danach kommen die Säuberungen, die nationalistischen Massenversammlungen, die Hysterie der Presse. Im Namen der Gleichschaltung der Serben ist alles erlaubt. Alte Ängste, Haßgefühle und Konflikte werden neu belebt. Es werden Pläne zur Neuaufteilung Jugoslawiens entworfen und das Autonomiestatut des Kosovo und der Wojwodina abgeschafft. Doch die Euphorie besteht fort, die Schlacht greift auf Slowenien und Kroatien über, die bosnische Tragödie zeichnet sich ab.

Die demokratische Opposition erklärt den westlichen Diplomaten mit dem Eifer der Verzweiflung, welches Drama da in Vorbereitung ist, doch stößt sie nur auf ironisches Lächeln. Während eines informellen Treffens mit seinen vier wichtigsten Mitarbeitern äußert Miloevic: „Es wird Krieg geben!“

Es herrscht zu dieser Zeit ein Klima der unaufhaltbaren Auflösung, das die Dokumente aus jener Zeit nie werden wiedergeben können. Die Persönlichkeit Miloevic' prägt sich allen definitiv und unentrinnbar ein. Später wird ein Belgrader sagen: „Wer während dieser zehn Jahre nicht verrückt geworden ist, der ist nicht normal.“

Wer ist dieser Mann?

Um eine Mythenbildung zu vermeiden, muß man auf die Pathologie Miloevic' und des Ehepaars Miloevic eingehen. Beide Eltern Miloevic' haben Selbstmord begangen, seine Schwiegermutter wurde von den Kommunisten wegen Verrats erschossen. Es ist allgemein bekannt, daß Frau Miloevic' Kindheit von dieser Tragödie überschattet war. Ihr Biograph Slavoljub Djukic schreibt, daß beide als Kinder in ihrer Heimatstadt Pozarevac als Einzelgänger galten, die keine Freunde hatten. Kenner der Belgrader Politzirkel schätzen die politische Rolle von Miloevic' Ehefrau als außerordentlich hoch ein. Sie hat die Stimme und die Sensibilität eines Kindes, und es fehlt ihr jeglicher Sinn für die Realität, aber ebenso wie Miloevic verfügt sie über ein sicheres Gefühl für Gefahr und versteht es meisterhaft, die Menschen zu täuschen. In ihrem Tagebuch, das sie während des Bosnienkriegs schrieb, vermischen sich die lyrischen Ergüsse eines verträumten Mädchens mit regelrechten Anweisungen zur Vernichtung ihrer Gegner. Ihr obliegt es, die höchsten Posten zu verteilen, und sie wählt mit untrüglichem Instinkt die Hinterhältigsten und Perversesten, die krankhaft Ehrgeizigen. Wenn ihre Perfidie aufgedeckt wird, spielt sie die kindlich Unschuldige. Beim Ehepaar Miloevic handelt es sich vielleicht um Menschen, die sich aufgrund ihres persönlichen Leidens so weit von der Gesellschaft entfernt haben, daß sie nach dem Unglück der Gesellschaft nahezu süchtig sind; daß sie dieses Unglück herbeisehnen und es mit krankhafter Leidenschaft herbeiführen, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet. Die Liebesgeschichte des Ehepaars Miloevic entbehrt nicht einer gewissen Größe. Da haben sich zwei Unglückliche zusammengeschlossen, und ihre Liebe nährt sich aus dem Unglück der Welt. Sie finden es zweifellos richtig, daß ihr Unglück durch das der anderen kompensiert wird.

Miloevic hegt eine besondere Vorliebe für Leute, die sich über alles lustig machen und nur in Form von Beschimpfungen reden. Ihnen gibt er alles, und er hat alle Gewalt über sie. Sie ihrerseits folgen ihm blind und können sich in einer Gesellschaft, die zu stinkendem Unrat verkommen ist, voll entfalten. In dieser sozialen Revolution lassen sich die Überbleibsel der Theorie und Praxis der beiden totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts ausmachen, des Kommunismus und des Faschismus – alle beide zur Karikatur verzerrt. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum der Westen gespürt hat, wie erschreckend modern Miloevic ist. Und das erklärt vielleicht, warum der Westen es nicht vermeiden konnte, sich schließlich vor dem Zerrspiegel Miloevic die Blöße zu geben. Wie wäre sonst zu erklären, daß die Regierungen von 19 industrialisierten Ländern, die größte Supermacht und die größte militärische Allianz der Geschichte sich in eine militärische Intervention gestürzt haben, die vermutlich die größte politische Dummheit dieses Jahrhunderts darstellt?

War es die Blindheit der amerikanischen Supermacht? Europäischer Opportunismus? Oder ist das alles nur geschehen, damit eine oberflächliche politische Klasse, eine Gesellschaft von Hedonisten, die nichts von der Tragödie des Lebens und der Irrationalität der Geschichte weiß, schließlich neben der letzten Inkarnation des Bösen im 20. Jahrhundert Platz nehmen kann und dadurch aufs Familienfoto kommt? Aus welchem Grund auch immer – noch nie habe ich die großen Medien der demokratischen Länder solche Anstrengungen machen sehen, um die Wirklichkeit und die Wahrheit zu vertuschen, wie bei meinem letzten Aufenthalt in Belgrad. Noch nie stand so wenig Inhalt hinter der humanitären Rhetorik. Selten haben die engagierten Intellektuellen so einmütig eine so verfehlte Aktion unterstützt, gerade so, als müßten sie der Welt noch einmal die Geschichte ihrer Irrtümer im Laufe dieses Jahrhunderts ins Gedächtnis rufen.

Wer ist dieser Mann?

Mein Freund Srdja Popovic verweist auf ein Essay von Wystan Auden über Jago, die Figur in „Othello“, um die Persönlichkeit von Miloevic zu erklären. Jago bezieht seinen Lebenssinn aus den Intrigen und Konflikten, die er schürt. Es ist ihm unerträglich, daß Leute in Ruhe leben, und vor allem, daß sie den Eindruck erwekken, zu großen Gefühlen fähig zu sein. Er weiß um die Schwäche, die im Inneren ihrer Seele sitzt, und ist es sich schuldig, sie ans Tageslicht zu bringen. Auden meint, Shakespeare habe mit Jago eine Figur geschaffen, die das Böse um des Bösen willen tut, und dieser menschliche Zug sei in der heutigen Welt besonders aktuell.

Normale Leute haben große Schwierigkeiten, solche Persönlichkeiten zu erkennen, denn sie können sich nicht vorstellen, daß man seine Kräfte einsetzt, allein um Böses zu tun und den eigenen Seelenfrieden aus dem Leiden anderer zu schöpfen. Deshalb gelingen die üblen Machenschaften dieser Leute immer. Am Ende des Dramas wird Jago aufgedeckt. Auf die Frage: „Warum?“ antwortet er: „Fragt mich nichts. Was ihr wißt, das wißt ihr.“

Aus dem Französischen von

Antje Bauer