Kastagnetten à la Techno

Mit dem furiosen „Soy“ der Kubilai Khan Investigations startete das Festival Junge Hunde auf Kampnagel  ■ Von Gisela Sonnenburg

„Man müßte das Leben so einrichten, daß jeder seiner Augenblicke bedeutsam ist“, sagt ein Romanheld von Turgenjev. Das könnte auch die Devise des aus Toulon stammenden, achtköpfigen Ensembles Kubilai Khan Investigations sein, das mit seiner Produktion Soy das diesjährige Festival Junge Hunde auf Kampnagel eröffnete: So furios, so komprimiert geriet der Abend.

Schon der Programmzettel ist lehrreich. Man erfährt, daß Kubilai Khan, der Namens-patron der Tanztheatertruppe, ein Freund Marco Polos war, der sich für Völkerverständigung einsetzte, und man erhält den Bedeutungsschlüssel für das Stück: Soy bedeutet in der Sprache der Dogonen einerseits „Material“, andererseits „dies ist das Wort“. Gemeint ist, daß auch das scheinbar Zufällige der Vorführung, die sich als work in progress versteht, Intention ist.

Der Anfang erinnert denn auch stark an eine improvisierte Performance. Unspektakulär in T-Shirts gewandet, schreitet ein Paar zu einem behutsamen Pas de deux. Liegend, schlafend, umarmend bilden sie einen Kokon, üben das Miteinander von Mann und Frau. Doch mit wummernden Technotakten schleicht sich unerbittlich das Maschinenzeitalter ein – und die Bühne wird fortan Schauplatz blitzschnell wechselnder Einzelszenen, die den Bogen über die verschiedensten, modernen Lebensentwürfe spannen.

Da dreht einer im Laufschritt einsam-meditative Runden, ein Bambusrohr auf dem Kopf balancierend. Eine Tänzerin stößt spitze Schreie aus, tobt und wütet: das Leben als Samurai-Kampf mit sich selbst. Der nächste Akteur träumt den Traum von der Freiheit, scheitert jedoch schon an den Grenzen der Spielfläche. Für Trauer ist aber keine Zeit. Schon kommt einer und greint tierisch-triebhafte Laute ins Mikro, während sein Kollege meterhohe Pirouetten springt. Kontrast ist Trumpf, Synchrones die Ausnahme. Die Violine zirpt, ein Gedicht wird aufgesagt und mit metallenen Kastagnetten veranstalten die beiden Tänzerinnen des Oktetts ein klangliches Feuerwerk, das Tradition und Verfremdung verbindet. Das Leben – was für ein bunter Rausch ist es hier.

Auf dessen Höhepunkt meint man, sich auf einer Zigeunerfeier zu befinden, die den Flamenco neu erfindet. Gitarre und Geige entfachen einen Hurricane, der mitreißt. Die Füße stampfen, die Hände klatschen, die Körper winden sich zu rasanten Figuren und Hebungen. Ekstase pur. Aber so schnell, wie diese losbrach, ebbt sie auch wieder ab. Zurück bleibt Stille. Ab jetzt lotet die Aufführung sensibel das Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen aus. Hierzu schlüpft die Truppe in Rollen: Ein Emigrant stellt sich in Tom-Waits-Tonart vor. Ein weiterer Großstadtindianer kommuniziert mit den Pflanzen in seinem Einkaufswagen, und im Rhythmus seiner Worte bläst sein Gefährte zusammengeknüllte Plastikflaschen auf, mit denen er dann auch noch Turnübungen vollbringt.

Und wieder schlägt die Stimmung flugs um. Eine Protagonistin zelebriert den klassischen Nervenzusammenbruch einer Hausfrau. Aus ihrem lauthalsem Weinen erwächst verblüffenderweise ein leidenschaftlicher Flamencogesang. Doch mit Turbotempo bahnt sich bereits das nächste Minidrama an. Zwei Männer und eine Frau bauen die typischen Aggressionen einer Menage à trois auf, rempeln sich an, verkeilen sich, heben einander mal flirtend, mal rivalisierend in luftige Höhen. Tänzerischer Gruppenclinch – bis der Technosound anschwillt. Wie eine Zeitmaschine treibt er die Tänzer zurück ins Automatisierte, wo Aerobic-Pflicht für alle herrscht. „They run and run“, haucht eine Stimme aus dem Off. Ein stürmisches, weibliches Solo gilt als Epilog – eine sakrale Orgie wie aus dem Sacre du Printemps. Ein Auftakt zur nächsten Collage?

Insgesamt war der Abend genau das, was die Jungen Hunde versprechen: interkulturelles Crossover total. Nicht umsonst kommen die Mitglieder von Kubilai Khan Investigations aus den Bereichen moderner Tanz, Akrobatik, Musik und Ballett. Sie können sich mit Lust am Experiment aller möglichen Ausdrucksformen bedienen, unterliegen keinem Zwang zur Perfektion, pflegen aber unter der Leitung von Frank Micheletti einen charakteristisch weichen, fließenden Tanzstil, der keine Sekunde Bühnenspannung vergeudet. Prädikat: Horizonterweiternd.