„Was ist schon gut.“

Nach viereinhalb Jahren Bewegungslosigkeit im Kirchenasyl in Glinde gibt die Roma-Familie Daferoski auf: Im Sommer wird sie ausreisen – ins Flüchtlingselend nach Mazedonien  ■ Von Elke Spanner

Die meiste Zeit seien sie sich aus dem Weg gegangen, sagt Seihan. „Was redest Du da?“ herrscht seine Schwester ihn an. „Das geht hier doch überhaupt nicht.“ Flüchtig weist sie mit dem Kopf in Richtung des Zimmers, in dem die vier Geschwister leben. Die Mühe, mit dem Blick die Bewegung zu begleiten, macht sie sich nicht. Herausfordernd bleiben die Augen auf ihren Bruder gerichtet. Der keift zurück: „Wo warst Du? Na? In der Bücherei“, antwortet Seihan sich selbst. „Wo war er?“ Er sieht zu seinem Bruder Ajhan rüber. „Er hat Klavier gespielt. Und ich war draußen“.

Draußen ist das Terrain zwischen dem Kirchengebäude und dem schwarzen Zaun, der es zur Straße hin begrenzt. „Der ist zwar klein, aber irgendwie ist da eine große Mauer drüber“, sagt Ajhan, der Zwillingsbruder von Seihan. Zwanzig Jahre sind sie beide alt. Elf davon haben sie in Deutschland verbracht, viereinhalb in der St. Johannes-Kirche in Glinde. Eineinhalb Jahre waren sie ausschließlich dort – ohne jemals das Gelände zu verlassen.

Nachbarn hatten sich empört, daß Mitglieder der Roma-Familie zuvor auf der Straße gesehen worden waren, obwohl sie doch im Kirchenasyl lebten. Fortan taten sie das Tag und Nacht, rund um die Uhr, bis sie psychisch am Ende waren. Resigniert versprach die Familie dem Innenministerium von Schleswig-Holstein, nun „freiwillig“ nach Mazedonien auszureisen. In einem Radiointerview bedankte sich Minister Ekkehardt Wienholtz (SPD) vor wenigen Tagen für die „Einsicht“ der Familie.

Als Dankeschön gibt es eine Duldung bis Mitte Juli. Die öffnet den Daferoskis für die letzten Wochen in Deutschland die Tore. Freuen können sie sich darüber nicht, nicht mehr. „Ich habe auf überhaupt nichts mehr Lust“, sagt Ajhan. Seit Monaten schon hat er die Puzzles nicht mehr angerührt, die sich in einer Ecke der Küche stapeln. Wahrscheinlich hätte er aus lauter Unlust sogar das Essen eingestellt, „wenn meine Mutter nicht immer gemeckert hätte“.

Die Küche liegt im Keller des Gemeindehauses, vom Duschbereich mit einem gelben Vorhang abgetrennt. Der Raum, der als Wohnzimmer der Familie und Schlafzimmer der Eltern dient, wurde früher von Gruppen der Kirchengemeinde genutzt. In der Mitte ein Tisch mit blaß-gemusterter Decke darauf, die Sofas und Sessel ringsum wirken mehr ab- als aufgestellt. Der Dunst verglommener Zigaretten hängt in der Luft. Wie ZuschauerInnen im Theater beobachten die Eltern Dilaver und Miradije Daferoski still das Gezänke ihrer Kinder. Sejhan versucht, sich vorzustellen, wie das Leben in Mazedonien aussehen könnte, „da unten“, wie er sagt. Zu acht in zwei kleinen Zimmern bei den Eltern der Mutter. Ohne Bekannte und Freunde, „in unserem Alter sind die da alle schon verheiratet“. Er spricht in Richtung der Eltern. Güsepa, seine Schwester, sitzt hinter ihm auf einem Sofa und scheint auf Stichworte zu lauern, um aus der zweiten Reihe bissige Bemerkungen dazwischen zu werfen. „Laden und schießen lernt man schnell“, kanzelt sie ihren Bruder ab, als der sich Sorgen macht, weil die Jungs sofort zum Militärdienst eingezogen werden sollen. Und: „Früh heiraten muß man da gar nicht.“

Der Punkt, an dem die Familie entschied aufzugeben, kam vorigen Herbst. „Auf absehbare Zeit zeichnete sich keine Perspektive ab“, erklärt Pastor Jürgen Probst, dessen Gemeinde die Daferoskis die Jahre hindurch versorgt und betreut hat. „Wir konnten die Familie hier nicht länger vor sich hinvegetieren lassen“. 1995, als die Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, Heide Simonis (SPD), einen Tag in Glinde weilte, habe sie der Familie eine „humanitäre Lösung“ versprochen. Trotzdem wurden die Daferoskis im rot-grün regierten Land seit Jahren von Abschiebung bedroht. Erst hatten sie auf ihre Asylverfahren gehofft, dann darauf, daß die Bundesregierung die lange angekündigte „Altfallregelung“ erläßt. Als sich in Bonn voriges Jahr ein Regierungswechsel abzeichnete, setzte man auf einen SPD-Innenminister. Mit dem Machtwechsel sei indes keine politische Wende einhergegangen, bedauert Probst. „Der politische Wille ist einfach nicht da“. 1996 bekam die Kirchengemeinde für ihre humanitäre Hilfe den Olof-Palme-Friedenspreis – von der SPD.

Seihan sagt, noch zwei Monate länger in der Kirche und er wäre „durchgedreht“. Die Freunde von früher gingen abends aus, in die Disco, ins Kino, die Bar. Er mußte in der Kirche bleiben. Andere gehen zur Schule oder lernen einen Beruf. Seihan hat sich die Zeit mit Kicken im Kirchenvorgarten vertrieben. Einen Alltag gab es nicht mehr, und damit auch kein früh und spät, kein morgens und abends. „Gegessen haben wir oft um zwölf Uhr nachts“, so Ajhan. „Schlafen gegangen bin ich dann so gegen vier“.

Zum Glück hatten sie FreundInnen aus der Zeit, in der sie das Gelände noch verlassen konnten. Oft sind die zu Besuch gekommen. „Die Nachbarn haben sich am Anfang immer gewundert, daß die Jugendlichen aus der Gegend täglich in die Kirche gehen“, lacht Güsepa. Statt in der Kneipe trafen sich die Daferoskis mit ihren FreundInnen im Gemeindehaus, ihren zwei Zimmern und „unter dem Carport“. Pastor Probst schüttelt bedauernd den Kopf. Sorgen hätte sich die Gemeinde gemacht, daß sich jemand aus der Familie etwas antun könnte. Auch Seihan bestätigt: „Es mußte was passieren, egal was. Sonst...“ Er senkt den Blick.

Nach elf Jahren Deutschland wird das neue Zuhause der Daferoskis Bitola heißen, eine kleine Stadt in Mazedonien. 40 Prozent Arbeitslosigkeit, 15.000 Flüchtlinge aus dem Kosovo seit Beginn der Nato-Bombardements. „Da ist es voll, total voll“, stößt Vater Dilaver wütend hervor. „Eine programmierte Elendssituation“, so auch Probst. Klar habe Mazedonien zugesagt, die Daferoskis aufzunehmen, „die sind auf Hilfslieferungen aus Deutschland angewiesen“. Da die Roma-Familie nur Papiere aus Ex-Jugoslawien hat, das heute nicht mehr existiert, ist unklar, ob sie Zugang zu Sozialleistungen haben werden.

Miradije hängt sich ihre Handtasche über die Schulter. Der unsicheren Geste merkt man an, daß sie lange nicht mehr eine Tasche zum Ausgehen packen mußte. Gemeinsam mit ihrem Mann geht sie Richtung Straße. „Das ist gut“, sagt sie leise. Dilaver öffnet das Gartentor für sie. „Aber was ist schon gut.“