Die Logik der Geschichte

Die Desaster der Nato-Strategie: Den Flüchtlingen aus dem Kosovo droht dasselbe Schicksal wie den Palästinensern. Das Versprechen der Rückkehr ist nicht einzulösen, die muslimische Kultur wird ausgelöscht  ■   Von Edward Said

Während ich diese Zeilen schreibe, steht die Nato-Kampagne in ihrem zweiten Monat, ohne daß auch nur eines der angepeilten Ziele in die Nähe seiner Verwirklichung gekommen wäre. Das tyrannische und xenophobische Regime von Slobodan Milosevic ist immer noch an der Macht und gewinnt in Serbien zunehmend mehr Anhänger, sogar unter seinen früheren Gegnern. Dissidenten, Vertreter der demokratischen Opposition, regierungsfeindliche Radiostationen und -zeitungen sind mittlerweile entweder zum Schweigen gebracht worden oder unterstützen Milosevic gegen die Nato. Das ist auch keine Überraschung, bedenkt man, daß die immer zerstörerischeren Luftangriffe korrekt nur als Krieg gegen ganz Serbien betrachtet werden können. Auch die Greuel im Kosovo sind noch schlimmer geworden, mit mehr Flüchtlingen, mehr zerstörten Dörfern, mehr serbischen Truppen, die Verwüstungen in einer Gegend anstellen, die eigentlich vor Verwüstungen geschützt werden sollte.

Dies ist bei weitem die schlimmste von allen Fehlkalkulationen der Nato. Und der stärkste Beweis dafür ist die klare Unwilligkeit der Angreiferstaaten, sich mit der Flüchtlingskrise auseinanderzusetzen. Eine zusätzliche Schwierigkeit besteht meiner Meinung nach darin, daß mit aller Wahrscheinlichkeit nur wenige der Flüchtlinge repatriiert, nur wenige ihrer Häuser und Dörfer wiederhergestellt, ihre Lebenslinien wiederaufgenommen werden. Ich hoffe, daß ich mich da irre.

Für Palästinenser meiner Generation verliefen die Vertreibung des ganzen palästinensischen Volkes und die Gründung von Israel 1948 genau so – ohne CNN und ohne den Triumphalismus von Clinton, Blair und Solana, die dabei von humanitären Missionen und westlichen Werten plappern. Es lohnt sich, die Leser daran zu erinnern, daß die Generalversammlung der UNO in jedem Jahr seit 1948 die Resolution 194 bestätigt, die den palästinensischen Flüchtlingen das Recht auf Rückkehr und/oder Entschädigung zugesteht. Nach 51 Jahren solcher Resolutionen, die nicht weniger gut gemeint waren als die, welche die Sprecher der Nato heute täglich wiederholen, leben die Palästinenser immer noch im Exil, sind immer noch vertrieben. Und Israel, das 1948 dieselbe Rolle spielte wie Milosevic heute, vertreibt weiterhin täglich Palästinenser aus ihrer Heimat. Es ist dann wohl Ironie, wenn Israel, in seinem Wunsch, an der Seite der Nato mitmachen zu dürfen, so weit gegangen ist, 120 Kosovo-Flüchtlingen Asyl anzubieten – in einem Kibbuz, der auf dem Fleck Erde steht, der 1948 den Palästinensern weggenommen wurde.

Dort, wo das Dorf einst stand, ist kein Zeichen der alten Bewohner mehr zu finden, weder Namen noch Besitz, noch Erinnerungen. So funktioniert die Logik der Geschichte und, das muß wohl gesagt werden, die Logik der Eroberer.

Ein drittes Desaster besteht darin, daß man weder für die Nato-Kampagne noch für den serbischen Widerstand gegen sie ein klares Ende voraussehen kann. Wenn man aus dem Schicksal des Irak überhaupt eine Lehre ziehen kann, wird es mit großer Wahrscheinlichkeit so sein, daß in ein paar Monaten Milosevic immer noch an der Macht ist, Serbien zerstört sein wird und die serbische Zivilbevölkerung den höchsten Preis gezahlt hat.

Jeder Tag bringt weitere Beweise, daß Bill Cinton – der Architekt des Luftkrieges – eher seine eigene Pathologie in die Krise mit eingebracht hat als guten Willen, Wissen oder Menschlichkeit. Ein gerade erschienenes Buch des britischen Journalisten Cristopher Hitchens über Bill Clinton, wahrscheinlich das beste über die Clinton-Regierung überhaupt, seit der Mann aus Arkansas an die Macht kam, trägt den Titel „No one left to lie to“. Angesichts dessen, was dieser Präsident alles getan hat, ist das fast Understatement: Bruch seiner Wahlversprechen, Ausverkauf seiner Partei, Verrat an den Idealen Familie und Freunde sowie Betrug an einer ganzen Reihe von Frauen bis hin zum Mißbrauch der Bundesregierung als Vehikel für seine schmutzigen Pläne. Hitchens argumentiert, daß Clinton es nicht wegen seiner Lüge über die Affäre mit Monica Lewinsky verdient hätte, entlassen zu werden, sondern für die Bombardierungen des Sudan, Afghanistans und des Irak, die allesamt unrechtmäßig und ohne klare Provokation erfolgten.

Es gibt deutliche Beweise, daß Clinton die Kosovo-Krise genutzt hat, um den Schaden zu reparieren, den er sich durch die Lewinsky-Affäre zugefügt hat, ohne auch nur einen Gedanken an die Kosten des Krieges in bezug auf Menschenleben, Leiden, materielle Schäden oder seine Beendigung zu verschwenden. Denn die Nato-Aktion wurde nicht nur ohne eine formelle Kriegserklärung durch den US-Kongreß vom Zaun gebrochen, sondern es wurden auch wenige Gedanken daran verschwendet, wie ein solcher Krieg Ziele erreichen soll, die an der Sache vorbeigehen und so nebulös sind, wie sie nun mal sind.

Was soll der Status des Kosovo sein? Was wird mit den Serben im Kosovo? Aus welchen Gründen wird den „ethnischen Albanern“, wie die Medien sie fortgesetzt nennen, eine neue Zukunft angeboten, wo soll das sein und mit welcher Beziehung zu Serbien, das immer noch unangefochten die Souveränität über diese seine Provinz beansprucht? Das sind einige der grundlegenden Fragen, über die nachzudenken Clinton und sein kleiner Alliierter, der großartige Tony Blair und Außenminister Robin Cook, bisher wohl noch keine Zeit hatten.

In dieser Verschwörung des Schweigens, die der amerikanischen Öffentlichkeit aufgeschwatzt wird, haben die Medien eine außergewöhnliche Propagandarolle inne, die mit jedem Tag schlimmer zu werden scheint. Offensichtlich hat auch die serbische Propaganda ihre eigene Rolle gespielt, die zu verteidigen oder herunterzuspielen ich keine Anstalten mache. In Jugoslawien ist eine teuflische Identitätspolitik am Werk, die sowohl von den Medien als auch von den Kriegsgegnern vorangetrieben wird. Aber CNN und seine Mitverschwörer, einschließlich der BBC, haben die Rolle einer fünften Cheerleader-Kolonne übernommen.

Letzte Woche hatte ich einen Auftritt im BBC-TV. Ab einem bestimmten Punkt mußte ich den Moderator bitten, seine Stimme zu mäßigen und mir zu erlauben, ohne weitere Unterbrechungen zu reden. Als ich meine Aufmerksamkeit auf die Unzulänglichkeit von bestimmten Positionen der Nato richtete, begann er mich anzuschreien, wie ich Milosevic' ethnische Säuberungen rechtfertigen könne und wie gerade ich, als Palästinenser, die ethnischen Säuberungen an „Mit-Muslimen“ gutheißen könne.

Die meisten TV-Moderatoren beziehen sich auf Nato-Truppen als „unsere“ und räsonieren gegenüber Militärberatern über die Torheit, keine Bodentruppen einzusetzen und nicht noch mehr serbische Ziele zu attackieren, das serbische Fernsehen eingeschlossen. Kein Journalist hat es gewagt, die Frage zu stellen, wie es kommt, daß die Anzahl der Flüchtlinge gestiegen ist, seit die Nato-Bombardements begonnen haben (wo es doch das Ziel der Bombardements sein sollte, jene zu schützen). Der Meinung, daß die Nato die Dinge nur noch schlimmer gemacht haben könnte, wird kaum noch Gehör verschafft, ganz besonders seit der Krieg nach Montenegro und Albanien übergeschwappt ist und ernsthafte innenpolitische Spannungen in Griechenland, einem Nato-Mitgliedsstaat, erzeugt hat.

Die Zusammenarbeit zwischen Nato-Regierungssprechern und Journalisten hat effektiv jede investigative Berichterstattung zerstört (wir wissen fast nichts darüber, was im Kosovo passiert, außer daß es die Nato – fern davon, die serbischen Greueltaten zu stoppen – fertiggebracht hat, die Zahl ihrer Streitkräfte so weit zu erhöhen, daß CNN nicht mehr feststellen kann, was genau angegriffen wird, wo und mit welchem Ergebnis.) Ein gerade erschienener medienkritischer Artikel hat ausgeführt, wie die Erklärungen vom Sprecher des US-Außenministeriums, Jamie Rubin, echogleich von der CNN-Starreporterin Christiane Amanpour wiederholt werden – die rein zufällig Rubins Ehefrau ist.

Eine weitere Ironie besteht darin, daß die ständigen Referenzen an die „ethnischen Albaner“ leicht den Fakt verdunkeln, sofern sie ihn nicht völlig eliminieren, daß die meisten der Flüchtlinge Muslime sind. Man muß sich nur daran erinnern, daß das Adjektiv „muslimisch“ dann nie fehlt, wenn in den Medien von Hamas oder Hisbollah oder dem Iran oder den Palästinensern die Rede ist – besonders wenn es um „Terrorismus“ geht. In Jugoslawien geht die Taktik eher dahin, den Eindruck zu erwecken, daß die Flüchtlinge letztendlich Europäer sind und daher in größerem Maße die Aufmerksamkeit der Nato verdienen. Aus diesem Grund wird das Wort „Muslim“ nie gebraucht.

Gerade sehe ich einen Bericht über die Familien der 46.000 kurdischen Opfer (die meisten von ihnen sind Muslime) des türkischen Völkermords, der genau wie die Aushungerung von irakischen Zivilisten mit aktiver US-Beteiligung stattfindet (die USA versorgen das Nato-Mitglied Türkei z. B. mit Apache-Hubschraubern und F-16). Warum das nicht als ebenso schlecht angesehen wird wie das, was Milosevic tut, verwirrt mich – aber vielleicht ist da ja eine höhere Logik am Werk, die gewöhnliche Menschen nicht so leicht nachvollziehen können.

Das Schlimmste an der Nato-Kampagne, wie sie sich in den Medien darstellt – und man sollte sich erinnern, daß die globalen Medien heute effektiv aus fünf transnationalen Konzernen bestehen, die alle über intensive Verbindungen zur Rüstungsindustrie verfügen –, ist nicht, daß sie die enorm komplizierte Geschichte des Konfliktes und die Gesellschaften und Völker, die auf dem Balkan existieren, simplifiziert, sondern daß sie sich unhinterfragt auf das stützt, was die Nato sagt und welche Bilder die Nato freigibt.

Die Medien sind faktisch ein Teil der Nato-Kampagne geworden. Sie löschen Geschichte und Wirklichkeit aus und ersetzen sie durch Propaganda. Das Ergebnis ist, wie der britische Parlamentarier Anthony Benn völlig richtig sagte, eine Bedrohung der Demokratie – ganz zu schweigen von der Bedrohung der Zukunftschancen für einen nicht unerheblichen Teil der Menschheit.

Der wahrscheinlich gefährlichste Nebeneffekt des neuen Balkankrieges besteht allerdings darin, daß er auf Dauer die UNO beschädigt hat. Was die USA gezeigt haben, ist, daß sie und nur sie allein den Lauf der Dinge diktieren können – sie können überall eingreifen, wo es die Launen ihrer Führer bestimmen mögen, zerstören, intrigieren, wiederaufbauen, wie sie wollen – ohne einen anderen Grund als den, daß sie es so tun können.

Obwohl ich Samuel Huntington nun wirklich kein Kompliment machen will, scheint es doch so zu sein, daß seine These vom „Clash of civilisations“ ins Repertoire der US-amerikanischen Politik aufgenommen wurde. Die grundlegende Annahme dieser Politik ist anscheinend, daß die Welt für den „Westen“ ein gefährlicher Ort ist und daß es, wie Huntington sagt, auf jeden Fall besser ist, in die Offensive zu gehen und das gegnerische Lager direkt anzugreifen. Nur auf diese Weise können die USA ihre Ökonomie „ermutigen“, in andere Volkswirtschaften zu expandieren und ihren Nutzen daraus zu ziehen. Der Siegeszug dieser Idee ist nicht nur der Siegeszug einer lächerlichen Vorstellung über unsere Welt (einer Vorstellung, die annimmt, daß sämtliche Zivilisationen notwendig in Konflikt miteinander liegen und daß ethnische Identität die einzige Grundlage von Politik sei). Sondern sie stattet die Welt auch mit einer falschen Dichotomie, einer falschen Logik aus, deren Essenz in der Formel „Entweder du bist für uns oder gegen uns“ liegt.

Heute heißt das: entweder für die Nato und die mit ihr verbundenen „westlichen“ Werte von „Humanität, Demokratie und Anstand“ sein oder für die inhumane, grausame Tyrannei der slawisch-orthodoxen Zivilisation, wie sie von Slobodan Milosevic repräsentiert wird. Wenn man die Alternative in einer solchen Weise formuliert, kann jeder leicht sehen, daß das eine Karikatur der Wirklichkeit ist.

Moralische Entscheidungen sind niemals einfach, und sie sollten auch nicht einfach gemacht werden, solange die Welt als etwas Besseres, als ein vom freien Markt regulierter und von den USA kontrollierter Dschungel, in dem jeder gegen jeden kämpft, überleben soll. Mehr noch, hier ist eine zutiefst antidemokratische Logik am Werk. Sie sagt: Mach hin, schließ dich uns an – oder du wirst dämonisiert und vielleicht sogar zerstört.

Die USA sind heute das einzige Land auf der Erde, daß sich innerhalb der letzten zwölf Monate weltweit eingemischt hat und das innerhalb der letzten Dekade insgesamt 60mal zu ökonomischen Sanktionen gegriffen hat. Mit ihren über 600 Luftangriffen täglich, mit General Wesley Clark, der noch mehr Kampfflugzeuge, noch mehr Bomben und Truppen fordert, mit mindestens einem halben Dutzend Staaten, die sich im Besitz von nuklearen, biologischen und chemischen Waffen befinden (ganz zu schweigen von denen, die solche Waffen gerne hätten), riskiert die Menschheit in absehbarer Zukunft eine Menge.

Leider gibt es hier keine schnellen Lösungen, die die vorherrschende Logik falscher Dichotomien und den verbitterten Glauben an eine Bedrohung der eigenen Identität zu ersetzen vermögen.

Aber wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, was die Medien verdrehen und verheimlichen, können wir wenigstens unseren Widerstand entwikkeln: gegen die Ziele und die Führung von Männern wie Milosevic oder Clinton, die niemals einen Krieg und seine zerstörerischen Auswirkungen erfahren haben und die betrunken sind von den Wundern elektronischer High-Tech-Kriegführung, bei der man fern vom Leiden seiner Opfer bleiben kann. Die einzig mögliche Antwort darauf liegt in der Weigerung, sich die immer wiederkehrenden Bilder von Flüchtlingskolonnen anzusehen und einen Widerstand zu entwickeln, der aus einer echten philosophischen und geisteswissenschaftlichen Erziehung, geduldiger und unermüdlicher Kritik und intellektueller Courage herrührt.

Mit Identitätspolitik, nationalistischen Leidenschaften und Bluttaten, einem entwickelten Sinn dafür, Opfer zu sein, oder mit Erlöserkomplexen kann nur auf eine Weise umgegangen werden: Dies sind universelle Probleme, die universelle Lösungen erfordern und nicht unreflektierte Verlegenheitslösungen und spontane Kriege. Aus dem Englischen von Katja Hübner