Wenn Reden schwerer fällt als Schweigen

■ Zum ersten Mal sammelt eine NGO in Flüchtlingslagern Beweise für den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Aber in den Lagern in Bosnien werden viele der ZeugInnen bedroht. Sie müssen umgehend in sichere Länder ausreisen dürfen, fordert die Sprecherin der NGO

Berlin (taz) – Im Krieg vergewaltigte Frauen, heißt es, schweigen. Das Team der Schweizer Organisation „Coordination of Women's Advocacy (CWA)“ macht derzeit andere Erfahrungen. „Die schweigen nicht, sie reden sogar sehr viel“, sagt eine Sprecherin,“nur – über andere Dinge!“ Sieben Wochen war das CWA-Team in Bosnien unterwegs, um für den Internationalen Gerichtshof Aussagen über Kriegsverbrechen an Kosovo-AlbanerInnen zu sammeln – besonders von Frauen. Weil sie die Arbeit in den nächsten Wochen fortsetzen werden, möchte die Sprecherin anonym bleiben.

Eine Aussage zu machen ist für Kosovo-AlbanerInnen gefährlich. Viele von ihnen leben in Flüchtlingslagern, die sie mit Serben teilen, die aus dem Kosovo und aus Belgrad geflohen sind. Die größte Befürchtung aussagewilliger KosovarInnen: Die serbischen Lagergenossen könnten ihre Namen an serbische Milizen weitergeben, so daß sie oder ihre Verwandten im Kosovo in Gefahr gerieten.

So groß ist die Furcht vieler Flüchtlinge davor, identifiziert zu werden, daß sie selbst um die Lager einen Bogen machen. Einen Platz erhält dort nur, wer sich bei den Verwaltern vom UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR namentlich registrieren läßt. Ein Teufelskreis, denn ohne die Registrierung bleiben die KosovarInnen ohne Chance, in ein sicheres Land ausreisen zu können, wo sie ihre Aussage weitaus gefahrloser machen könnten.

Frauen haben noch mehr gute Gründe, lieber von anderem zu reden. „Die kosovo-albanische Gesellschaft ist noch patriarchaler als die bosnische“, sagt die Sprecherin, „viele Volkslieder, die ich hörte, handelten von der Eifersucht der Männer. Im Lager ist die soziale Kontrolle der Frauen, deren Privatbereich genau eine Schlafstelle groß ist, extrem.“ Über eine Vergewaltigung reden, das würde hier niemand aushalten. Die Frauen nicht, ihre Männer nicht. „Häufig sprechen die Menschen mit uns zum ersten Mal über ihre Traumata“, ist die Erfahrung des Teams. Von Vergewaltigungen berichten statt der Opfer eher AugenzeugInnen.

„Die Erzählungen sind noch grausamer als die Berichte aus dem Bosnienkrieg“, so die Ermittlerin. Es seien dieselben Truppen unterwegs: die Gefährten des Milizenführers Arkan etwa, deren Gesichter wie Tiger geschminkt sind. Sie kämen in die Dörfer und massakrierten. Um die Bevölkerung einzuschüchtern, fänden öffentliche Folterungen und Vergewaltigungen statt, Körperteile würden abgeschnitten und als Warnung an die Häuser gehängt. „Die Menschen sind tiefer traumatisiert, weil sie innerhalb des Kosovo von Ort zu Ort getrieben werden, und immer wieder aufs neue terrorisiert werden“, ist die Erfahrung des Teams. „Schlimm wird es, wenn die Leute ganz präzise beschreiben oder sogar vorspielen, was passiert ist. Wenn sie sagen: 'Ach nein, da auf der Straße lag kein ganzes, sondern ein halbes Gehirn', das sind Bilder, die erstmal bleiben.“ Die eigenen Grenzen trotz des Ansturms drängender Probleme noch wahrzunehmen, sei für die Helferinnen eine der größten Schwierigkeiten.

In den Flüchtlingslagern Albaniens und Montenegros sind nur wenige Dutzend Ermittler des Internationalen Gerichtshofs unterwegs. In Bosnien, wo bis letzte Woche etwa 25.000 Flüchtlinge untergekommen waren, arbeitet nur das Team von „Coordination of Women's Advocacy“, das im Auftrag des Schweizer Außenministeriums tätig wurde. Eine reguläre psychosoziale Betreuung, gerade für die Frauen, gibt es nicht. Der UNHCR, der die Lager organisiert, wäre überfordert, die örtlichen Frauenorganisationen sind mit den traumatisierten Frauen aus dem Bosnienkrieg mehr als ausgelastet. „Man müßte jetzt die albanischen Frauen aus den Pflegeberufen ausbilden, die müßten hier in kleinen Einheiten die Frauen betreuen. Wenn sie eine persönliche Perspektive hätten, dann könnten sie auch anfangen, eigene Aussagen vor dem Tribunal ins Auge zu fassen“, sagt die Sprecherin.

Auch in den sicheren europäischen Ländern werden die ZeugInnen nicht ohne weiteres aufgenommen. So zögern beispielsweise viele mögliche Zufluchtsstaaten damit, ihnen den vollen Asylstatus zu gewähren. Wohin das führt, zeigte einer der Kriegsverbrecherprozesse nach dem Bosnienkrieg. Weil sie sich bedroht fühlten, zogen mehrere Zeuginnen ihre Aussagen zurück. Solange Aussagen lebensgefährlich bleiben, reden die Frauen nicht – höchstens über andere Dinge. Heide Oestreich

Die Befürchtung aussagewilliger KosovarInnen: Die serbischen Lagergenossen könnten ihre Namen weitergeben