Rehäugiges für Hochseefreunde

■ Von der Winkelwiese gepflückt: Mit „Bambifikation“ verbreitet die Zürcher Theatergruppe Mass & Fieber einen Niedlichkeitsvirus

Winkelwiese unterwegs! lautet die Überschrift dieser Saison im Theater an der Winkelwiese in Zürich. Nicht wirklich im Theater, denn da verlor man für zwei Spielzeiten wegen Renovierung die alte Villa Tobler als Stammhaus und bespielt jetzt statt dessen verschiedene Räume im In-Bezirk Kreis 5. Einen Pfarrsaal, den Nebenraum eines kommerziellen Trendschuppens, ein simuliertes Hotel im Bürogebäude, einen miefigen Technokeller im Untergrund. Diese zunächst geografischen Grenzüberschreitungen hat die Winkelwiese als abwesenden Theaterort inzwischen allerdings auch in ästhetischer Hinsicht bestätigt. Schließlich waren es neben den Leuten aus der Gessnerallee in dieser Spielzeit genau die um die Winkelwiesen-Leiter Enzo Scanzi und Peter-Jakob Kelting, die Zürich ein spannendes Programm gezeigt haben, und nicht die abtretenden Truppen im Theater am Neumarkt oder im Schauspielhaus.

Wobei die beiden Leiter recht unterschiedlich sind. Der Schauspieler und Regisseur Scanzi steht auf Erzähltheater, auf sprühende Geschichten, während Kelting in seinen Inszenierungen nicht unbedingt kühler vorgeht, aber stärker reflektiert und schärfer seziert. Was die Herren trennt, eint das Haus, das es nicht gibt: Das Nebeneinander der Entwürfe und der Orte verschiebt das Augenmerk weg vom Einheitsprogramm, hin zu einzelnen, immer lokaleren Auseinandersetzungen. Das ist gut für die Kunst, aber aufreibend für das Theater und schwierig für die Öffentlichkeitsarbeit – das Publikum kommt selten in Scharen. Der Theatervirus braucht eben doch den einen Ort, an dem er sich verbreiten kann.

Nicht so der Bambivirus. Dieser hüpft im Sauseschritt durch die westliche Welt und plastifiziert alles bis zum Tod durch Verniedlichung. Spätestens zumindest seit Douglas Couplands „Generation X“ (1991), wo die Mutation von Individuen zu gummiartigen Comicfiguren erstmals als „Bambifikation“ diagnostiziert worden ist. „Bambifikation – Plastikmenschen schauen dich an“ der Gruppe Mass & Fieber koppelte im vergangenen Januar den Bambivirus mit dem Theater. Die Winkelwiese koproduzierte diesen „rehkranken Abend“, der sich dann aber als äußerst heilsam herausstellte.

Der Abend riecht nach Aufbruch. Denn auch der Regisseur Niklaus Helbling und der Musiker Martin Gantenbein, die ihn konzipierten, sind unterwegs. Der Zürcher Helbling arbeitet seit gut zehn Jahren in Hamburg, wo er fast ebenso lange Dramaturg am Thalia Theater war. Gantenbein indessen macht experimentelle Musik. Stadttheater trifft also Experiment, trifft dabei auch Markus Schönholzer, der sich nach zahlreichen, allzu familiären Musikprojekten nach anderem umschaut, trifft mit Bo Widet einen Cellisten im Pyjama und trifft vor allem Fabienne Hadorn, eine gerade mal 23jährige, schon fast gefährlich energiereiche Schauspielerin. Da wird im Kreis der professionellen, jeweils aus einer anderen Richtung kommenden Freunde einiges freigesetzt.

Aus Winkelwiese unterwegs wird Bambi unterwegs. Die Reise begann, wie es sich für einen Virus gehört, im Dunkel der „Katakombe“, einer der vielen Technokeller Zürichs. In einem Kinderzimmer als dem Kernstück der von nun an quer durch die Popwelt preschenden Bambimaschine. Bambi (Fabienne Hadorn) und ihre beiden minimal musizierenden und singenden Brüder Blue (Bo Wiget) und Hase (Markus Schönholzer) reproduzieren den Mythos in allen erdenklichen Formen: Bambi wird Josefine Mutzenbacher, wird japanische Kampf-Bambita, wird geschlechterübergreifende Bamby Lake oder gar Pocahontas zum Soundtrack von Neil Young, The Sparks, David Bowie oder den Shangri-Las.

Das alles bleibt mehr- oder dünnschichtig, je nach Geschmack. Niklaus Helbling nennt es einen „Selbstbedienungsladen: Die Literaturleute mögen die Verarbeitung der Mutzenbacher, die Jäger und Sammler suchen nach Filmen oder Songs, es bilden sich Fraktionen zwischen Hochseefreunden und Indianerliebhabern, Hornblowers und Winnetous.“

Die zwölf Szenen gleichen einer 12-inch, einer Maxisingle aus anachronistischem Vinyl. Denn gemischt und verwoben wird dauernd, aber der Groove ist tanzbar, in den einzelnen Spuren zumindest nie kryptisch entstellt. Es gibt zwar Tape Recorders, Filme, viel Musik und Vorträge, aber das Live-Handwerk – dies der Anachronismus – wird nie geleugnet. Hadorn zeigt Energie und Technik, als würde sie an allen Theatern dieser Welt gleichzeitig vorsprechen wollen, und die Jungs machen selbst in den reduziertesten Arrangements klar, daß ihre Musik bestechen will. Bambijumping macht Spaß, wenn auch nur nach der Arbeit. Tobi Müller

„Bambifikation“ von Mass & Fieber, im Rahmen des Festivals „Schweiz“ heute um 20 Uhr im Stuttgarter „Treffpunkt“