„Ein Illegaler braucht Disziplin“

■ Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst hat eine Untersuchung über das Leben Illegaler in Deutschland veröffentlicht. Ergebnis: Ihre Situation verschlechtert sich seit Jahren

Berlin (taz) – Bloß nicht auffallen. Nie schwarzfahren, nie stehlen, immer ordentliche Kleidung tragen, nicht in Streitereien hineingeraten, die Adresse nicht weitergeben, Fremden mißtrauen. Das hat Andrej sich gut gemerkt. „Ein Illegaler braucht Disziplin“ – das ist seine Überlebensstrategie. In der Hemdtasche steckt ein Notizbuch. Dort verwahrt der Ukrainer die Telefonnummern von Schleusern in Polen, die ihn für 400 Mark wieder zurück nach Deutschland schmuggeln würden, wenn er erwischt wird.

Etwa eine Million Menschen leben Schätzungen zufolge illegal in Deutschland. Seit Anfang der 90er Jahre hat sich ihre Situation deutlich verschlechtert. Zu diesem Resultat kommt Jörg Alt vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst in seiner Untersuchung „Illegal in Deutschland“, die gerade erschienen ist. In den vergangenen zweieinhalb Jahren hat Alt Hunderte von Interviews mit Illegalen, Kontaktpersonen aus dem Milieu und Behörden auf Bundes-, Landes und kommunaler Ebene geführt. So sorgfältig analysiert, auf der Basis einer solchen Datenfülle, war zuvor vom Alltag Illegaler in Deutschland noch nicht zu lesen.

Bei den Illegalen hat der Jesuitenpater viele entdeckt, die als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention gelten können und Recht auf freien Zugang zu einem Asylverfahren hätten. Doch immer mehr Flüchtlinge verzichten heute von vornherein darauf, einen Antrag zu stellen. Sie haben Angst vor der Ablehnung ihres Antrags. Sie wissen von der gewachsenen Bereitschaft deutscher Behörden, abgelehnte Antragsteller sofort abzuschieben. Die Studie zeigt außerdem, daß Behörden Anträge teilweise ignorieren oder nicht korrekt bearbeiten.

Daß die Schwarzarbeit Illegaler das Gemeinwesen schädigt, bezweifelt Jörg Alt. Anhand der Situation in der Leipziger Baubranche zeigt er, daß viele Firmen sogar angewiesen sind auf die Billigarbeiter, weil sie sonst dem Druck der Konkurrenz nicht standhalten können. Mit dem Rückgang der Konjunktur in der Branche verschlechterte sich Ende 1996 die Lage der Illegalen. Immer häufiger werden sie um ihre Löhne geprellt. Jörg Alt zeigt, daß diese Bedingungen zusammen mit den zunehmenden Kontrollen seitens der Behörden zum Beispiel durch Razzien zu einer wachsenden Abhängigkeit von Schleusern, Arbeitgebern oder Landsleuten führen. Die Gefahr von Verschuldung und Erpreßbarkeit steigt – ein Ergebnis, das sich auch in anderen deutschen Städten finden läßt.

Trotzdem kommt in Deutschland jedes Jahr eine etwa gleichbleibende Zahl von Flüchtlingen an. Daran können laut Studie auch restriktive Maßnahmen nichts ändern. Beispiel Ostgrenze: 1992 wachten hier noch etwa 2.700 Leute des BGS, 1997 sind es bereits etwa 6.200. Gleichzeitig versuchen Illegale eher in Gruppen als allein über die Grenze zu kommen. Dabei werden zunehmend die Dienste von Schleusern in Anspruch genommen.

Die Folge: Nicht nur die Strukturen von Schleuserringen werden gefördert, auch die Risikobereitschaft der Flüchtlinge und ihrer Helfer nimmt zu. Seit 1993 starben etwa 60 Menschen beim Versuch, die Ostgrenze illegal zu passieren. Der weltweite Jahresumsatz im Schleuser-Business wird inzwischen auf 10 bis 100 Milliarden Mark geschätzt. Jörg Alt glaubt, daß man das Leid Illegaler in Deutschland mindern kann. Zum Beispiel, indem man ihnen das Recht einräumt zu klagen, wenn der Arbeitgeber sie um den Lohn prellt. Yvonne Wieden